Freitag, 24. April 2015

Nüchterne Betrachtungsweise


"Es drohen bis zu zehn Jahre Haft" titelt die BILD über den Prozess gegen Sanel M., bekannt als Fall "Tugce". Zehn Jahre Jugendstrafe, das ist die Höchststrafe, die das Jugendstrafrecht vorsieht. Wenn man davon ausgeht, dass auf den Angeklagten Jugendstrafrecht angewendet werden wird, ist ein solches Strafmaß völlig unrealistisch.

Angeklagt ist Körperverletzung mit Todesfolge; es gibt andere Delikte mit weit höheren Strafandrohungen. Der Angeklagte ist geständig, die genauen Umstände der Tat ungewiss. Angesichts der bereits erlittenen Untersuchungshaft dürfte eine Jugendstrafe auf Bewährung das Höchste sein, das man realistisch erwarten kann. Nüchtern betrachtet, mutet der Tod der Geschädigten eher wie eine  Verkettung äußerst unglücklicher Umstände an.

Die nüchterne Betrachtungsweise scheint aber den meisten Betrachtern vollständig abhanden gekommen und auch wenig erwünscht zu sein. Die BILD hat einen "Liveticker" zum Prozess eingerichtet, dem man z. B. entnehmen kann, dass Tugces Mutter um 10:05 Uhr geweint hat. Um 09:08 Uhr findet Carina Hering es via twitter traurig, dass sich so wenige Menschen zur Mahnwache für Tugce eingefunden haben, und postet ein Photo, auf dem Schilder mit der Aufschrift "Gerechtigkeit" hoch gehalten werden. Was das noch mit dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit zu tun haben soll, mag man sich fragen, und diese Frage betrifft mehr oder weniger die gesamte Presseberichterstattung.

Eine - durch Videoaufnahmen dokumentierte - Ohrfeige wird da zu "ins Koma geprügelt" (BILD), der Vertreter der Geschädigten darf vom Bundeszentralregisterauszug des Angeklagten Rückschlüsse auf dessen Empathiefähigkeit ("gering") ziehen (Tagesspiegel), und so weiter, und so fort.

Das alles hilft dem Rechtsverständnis in der Bevölkerung wenig, es schadet.



5 Kommentare:

  1. wenn jugendstrafrecht angewendet wird, warum ist die verhandlung eigentlich öffentlich?

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  2. Weil der Angeklagte zur Tatzeit Heranwachsender, nicht Jugendlicher war. § 48 Abs. 1 JGG, wonach die Verhandlung nichtöffentlich ist, gilt für Jugendliche, nicht für Heranwachsende.

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  3. ich mag die Formulierung "nüchtern betrachtet", frage aber, vermute aber, dass das Schmieren für die Bild nüchtern unmöglich ist ;)

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  4. Die Jugendstrafkammer des LG Darmstadt hat das nicht rechtskräftige Urteil zu fällen, nicht RA Dr. Endres im Fernsehen (3 bis 5 Jahre) und nicht RA Neben (Freispruch oder bis 2 Jahre). Weitere Vorentscheidung liegt dann beim BGH.

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  5. Mir graut's schon jetzt vor dem Shitstorm gegen die Justiz, der nach der Urteilsverkündung meine Facebook- und Twitter-Neuigkeiten zieren wird. Am besten öffne ich diese beiden Apps am Tag der Urteilsverkündung +2 am besten gar nicht erst und erspare mir die Aufregung.

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