Freitag, 23. Februar 2018

Besorgte Strafverteidiger


Der Kollege Siebers beklagt hier, dass andere Kollegen mitunter vorschnell und ohne ausreichende rechtliche Grundlage Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnen - stets namens und im Auftrag ihrer Mandanten, versteht sich.

Seine Kritik kann ich nachvollziehen, etwas unwohl ist mir gleichwohl. Letztlich muss jeder Verteidiger sein Verhalten und seine Empfehlungen vor sich selbst verantworten; jede Verfahrenssituation ist anders und generelle Empfehlungen dürften daher ins Leere gehen.

Einige grundsätzliche Anmerkungen helfen vielleicht dabei, im Einzelfall zu einer realistischen Einschätzung der jeweiligen Situation zu gelangen:


  1. Lediglich ein verschwindend kleiner Teil aller Ablehnungen hat "Erfolg", wenn man die begründete Ablehnung eines Richters denn als "Erfolg" bezeichnen möchte. Vielen Ablehnungen, die ich persönlich für begründet halte, bleibt dieser Erfolg gleichwohl vorenthalten.
  2. Der Verteidiger, der eine Ablehnung verantwortet, muss daher schon aus rein statistischen Gründen immer davon ausgehen, dass die Ablehnung scheitert. Damit muss man leben - und weiter verteidigen - können und wollen. Manche Richter reißen sich erst zusammen, wenn sie ein paar Mal in der Verhandlung abgelehnt worden sind. Das scheint mir ein Defizit in der Persönlichkeitsstruktur zu sein, der nicht selten auftritt. Insoweit: Auch erfolglose Ablehnungen können auf dieser Ebene ein Erfolg sein. 
  3. Jeder Verteidiger sollte sich vor jeder Ablehnung kritisch fragen, ob das beanstandete Verhalten eines Richters tatsächlich Rückschlüsse auf eine etwa voreingenommene Haltung zulässt. Wer einen Richter schon ablehnt, weil er den Verteidiger auf dem Flur versehentlich nicht gegrüßt hat, läuft in die Gefahr, auch sonst nicht mehr ernst genommen zu werden. Dieser Fall ist übrigens original passiert.
  4. Tatsächliche Voreingenommenheit ist zweifelhaft insbesondere dann, wenn der Richter nur eine - selbstverständlich vorläufige - Einschätzung der Sach- und Rechtslage abgibt. Dabei ist völlig unerheblich, ob der Richter zu jeder seiner Äußerungen zwanghaft relativierende Füllsel wie "mutmaßlich" oder "nach vorläufiger Einschätzung" benutzt. Das sind meistens nur gelernte Schutzmechanismen, die über die tatsächliche Einstellung des Richters nichts aussagen. Ich selbst bin für jede Einschätzung dankbar, die ein Richter im Rahmen der Beweisaufnahme abgibt. Denn dann kann ich mit dieser Einschätzung arbeiten. Die besten Ergebnisse erziele ich regelmäßig bei Richtern, die zwischendurch auch mal knallhart ihre Meinung sagen. Diese Richter sind erfahrungsgemäß nämlich auch am ehesten bereit, ihre Meinung zu ändern. Der Richter, der seine Meinung ängstlich hinter Floskeln versteckt, ist in der Regel weit weniger bereit, seine Überzeugung in Frage zu stellen. Das zarte Pflänzchen der richterlichen Introspektion sollte die Verteidigung daher nicht durch reflexartige Ablehnungen im Keim ersticken. Damit nimmt man sich - auch für die Zukunft - viele Möglichkeiten.
  5. Wenn der Verteidiger auch nach selbstkritischer Introspektion meint, beim Richter eine Voreingenommenheit entdeckt zu haben, sollte er in jedem Fall handeln. Nichts ist der Verteidigung schädlicher als zögerliche Zurückhaltung. Der selbstkritischen Introspektion dient auch, sich bei erfahrenen Kollegen nach deren Meinung zu erkundigen. Der Kollege Siebers ist da sicherlich ein guter Ansprechpartner. Wer einen anderen nach dessen Meinung fragt, sollte allerdings auch eine andere Meinung als die eigene ertragen können. Wenn die selbstkritische Introspektion danach immer noch zum selben Ergebnis kommt: umso besser. Hauptsache, man hat darüber nachgedacht.


Ich selbst habe übrigens in zwanzig Jahren beruflicher Tätigkeit nur etwa ein Dutzend Ablehnungsanträge gestellt. Das ist wohl nicht sehr viel. In der Mehrzahl dieser Fälle habe ich den betreffenden Richter dann auch gleich mehrfach abgelehnt, dann nämlich, wenn er sich so eklatant vom Recht entfernt hatte, dass sich dies zwangsläufig auch in seinen dienstlichen Äußerungen widerspiegelte, was dann prompt die nächste Ablehnung nach sich gezogen hat.