Der Kollege Thomas Hollweck hat hier einen Ratgeber für das Jura-Studium geschrieben, der hier leider nur verrissen wird.
Mich erinnert die Diskussion an eine wirklich großartige Passage aus dem Roman "Ballmanns Leiden" von Herbert Rosendorfer, allen Juristen zum Lesen dringend empfohlen. Das Buch handelt von einem Richter - Ballmann - der eines Tages beschließt, nicht mehr zum Dienst zu erscheinen und sich fortan vor aller Welt verleugnen lässt. Das Kollegium hält ihn für verrückt; der Herbert Rosendorfer lässt durchaus beabsichtigt die Frage aufscheinen, ob nicht es nicht eher die Richterschaft selbst ist, die verrückt ist.
Aber es gibt auch Lichtblicke in der so beschriebenen Richterwelt. So treffen sich ein alter Oberstaatsanwalt und der Landgerichtspräsident, um zu besprechen, wie die Justiz mit dem mutmaßlich dem Wahnsinn verfallenen Kollegen umgehen soll. Dabei hält der Oberstaatsanwalt einen beachtlichen Vortrag, in dem er ein Grundproblem der Justiz geißelt, das er als "bloß-begriffliches Denken" bezeichnet. Sein Vortrag - von mir um Dialogelemente gekürzt - lautet wie folgt:
"Bloß begriffliches Denken. Man kann auch sagen: Denken aus zweiter Hand. Schau Dir doch einmal die Urteile unseres Obersten Landesgerichtes an oder die vom Bundesgerichtshof. Da wagt keines einen Gedanken, der nicht schon vorgekaut ist. Die trauen nicht einmal dem Text des Gesetzes. Es gibt Rechtsfälle, sogar komplizierte Rechtsfälle, die mit Anwendung eines einzigen Paragraphen zu lösen sind, man muss nur wissen, mit welchem. Natürlich sind unsere Oberst-Räte und Bundesrichter nicht so dumm, dass sie nicht den Paragraphen wüssten, aber eher würden sie sterben, als eine Sache mit so einer einfachen Entscheidung zu lösen. (...) Halten Sie die richtige Ordnung ein! Die richtige Ordnung ist eine Reihenfolge, die, möchte man meinen, selbstverständlich ist: drei Viertel aller denkbaren Rechtsfälle lassen sich durch schlichtes Anstrengen der eigenen Gehirnzellen lösen. Von der Hälfte des verbleibenden Viertels genügt eine weitere bescheidene Anstrengung: ein Blick ins Gesetz. Für neunzig Prozent des verbleibenden Teils bedarf es des Nachschlagens in einem Kommentar, und erst, wenn einen das nicht weiterbringt, in einem verschwindenden Bruchteil von Fällen, ist es nötig, der Rechtsprechung und der Literatur nachzugehen. Aber schau unsere Kollegen an: erzählst Du einen Fall, schon schreien sie, sie wüssten eine einschlägige BGH-Entscheidung, die auf den Fall passt. Übrigens passen in den seltensten Fällen die Entscheidungen, wenn man genauer nachliest; passen tun allenfalls die markigen Leitsätze, die in der "NJW" fettgedruckt sind. Alle lesen nur das Fettgedruckte, und was fettgedruckt wird, entscheidet der Redakteur. Das ist auch noch nicht untersucht worden: der Einfluss der "NJW"-Redakteure auf die Rechtsfortbildung. Er ist wahrscheinlich größer als der des BGH."Gegen diese Tirade unternimmt der Landgerichtspräsident nur eine recht klägliche Gegenrede und muss sich schließlich anhören:
"Durch die Bank zäumen all, namentlich die Obergerichte, den Gaul von der verkehrten Seite auf. Weißt Du, woher das kommt? Es ist die Angst vor der Verantwortung. Wer seine Entscheidung auf möglichst viele Zitate stützt, verteilt die Verantwortung auf alle möglichen anderen Instanzen, und wenn er genug Zitate zusammenrecht, kann er selber zum Schluss nichts mehr dafür."Das hat wahrscheinlich niemand vor ihm und niemand nach ihm so treffend ausgedrückt. Und deshalb hat der Kollege Hollweck mit seinen Ratschlägen gar nicht so unrecht, wie es der eingangs angesprochene Lehrbeauftragte in seinem Beitrag darstellt.