Donnerstag, 23. Februar 2023

Die letzte Generation - Ziviler Ungehorsam (Anmerkung zu OLG Celle, Beschl. v. 29.07.2022 - 2 Ss 91/22)

 

1. Einleitung

Nachdem wir uns hier und hier mit der Auffassung von Thomas Fischer zur etwaigen Strafbarkeit von Straßenblockaden auseinandergesetzt hatten, müssen wir uns jetzt mit der aktuellen Entscheidung eines Gerichts befassen, das sich explizit zur Rechtfertigungsproblematik im Zusammenhang mit dem Klimawandel geäußert hat. Die Entscheidung wurde von Mathis Bönte in der NStZ 2023, S. 113ff besprochen. Dieser Beitrag ist eine Ergänzung.

Das Oberlandesgericht Celle hat in seinem Beschluss vom 29.07.2022 - 2 Ss 91/22 über den Fall eines Aktivisten entschieden, der eine Parole ("Leuphana divest: Kohle aus Nord/LB") an die Fassade einer Universität angebracht hatte. Vom Amtsgericht war der Aktivist wegen Sachbeschädigung verurteilt worden, das OLG Celle hat dieses Urteil bestätigt. 

Das OLG hat sich dabei ausschließlich mit dem Vorliegen von Rechtfertigungsgründen befasst. Es hätte seine Entscheidung auch gar nicht zu begründen brauchen; das Gericht hat es trotzdem getan. 


2. Rechtfertigender Notstand, § 34 StGB

Den rechtfertigenden Notstand lehnt das Gericht mit der Begründung ab, das Verhalten des Angeklagten wäre für die "von ihm bezweckte Abwehr der Gefahr eines möglicherweise unumkehrbaren Klimawandels" nicht geeignet. Zum Verständnis des Inhaltes der aufgebrachten Botschaft bedarf es einigen Vorwissens, das wir hier mal ausklammern und mit dem Gericht davon ausgehen wollen, dass die Botschaft Aufklärung gegen den Klimawandel leisten soll. Hier geht um die Begründung des Gerichts:


"Eine Rechtfertigung aufgrund Notstands gem. § 34 StGB scheidet aufgrund einer fehlenden Geeignetheit des Handelns des Angekl. für die von ihm bezweckte Abwehr der Gefahr eines möglicherweise unumkehrbaren Klimawandels aus. Denn die Beschädigung der Fassade der Leuphana Universität ist nicht in der Lage, dem Klimawandel entgegen zu wirken. Soweit die Revision hierzu sinngemäß der Auffassung ist, eine derartige einzelne Handlung könne zwar allein die Abwehr der Gefahr nicht bewirken, wohl aber eine Vielzahl einzelner Bemühungen, so dass die Geeignetheit dieser Vielzahl der Bemühungen auch für jede einzelne Handlung angenommen werde müsse, geht dies fehl. Denn es ist offenkundig, dass auch eine Vielzahl von Beschädigungen der Fassade Universitätsgebäuden ebenso wenig wie eine einzelne Beschädigung durch den Angekl. Auswirkungen auf den Klimawandel haben können. Es handelt sich stattdessen bei dem Verhalten des Angekl. jeweils um rein politisch motivierte Symboltaten.

Zudem ist schließlich auch nicht ersichtlich, dass die Gefahr eines Klimawandels nicht anders als durch die Begehung von Straftaten abgewendet werden könnte."

 

Hierzu weist bereits Bönte darauf hin, dass der Entscheidung jeden Maßstab für die "Geeignetheit" vermissen lässt; insbesondere hätte man gerne gewusst, welche zur Abwendung des Klimawandels geeigneten Mittel dem Gericht denn so vorschweben. Das Gericht teilt es nicht mit - obwohl es zur Prüfung der Geeignetheit zwingend ist, mildere Mittel konkret zu benennen. 

Der Diskussion um die generelle Eignung des Mittels entgeht das Gericht mit einem dreisten Taschenspielertrick: Unstreitig ist, dass das Bemalen von Hauswänden keinen direkten Einfluss auf die Erderwärmung hat. Das hat aber auch nie jemand behauptet. Es gibt schlichtweg keine isolierte Handlung, die geeignet wäre, den Klimawandel direkt zu stoppen. Die Verteidigung hat entsprechend vorgetragen, dass das Verhalten des Angeklagten vielmehr den sinnvollen Bestandteil eines komplexen Vorgehens bilde, durch das die Notlage am Ende bewältigt werden könnte. Dies genügt nach herrschender Meinung, um die Geeignetheit zu bejahen. Um geeignet zu sein, muss das jeweilige Verhalten die Gefahr nicht mit einem Schlag beseitigen, es genügt, wenn es sich in eine sinnvolle Strategie einfügt. Das ist notwendig und leuchtet direkt ein: Wenn das Ungeheuer aus seinem Käfig ausgebrochen ist, ist nicht nur dessen Tötung gerechtfertigt (direkte Gefahrenabwehr), sondern auch alle Handlungen auf dem Weg dorthin: Warnung der Dorfbewohner, Erlangung von Waffen etc.(indirekte Gefahrenabwehr). 

Das Gericht entzieht sich der Auseinandersetzung mit diesem Argument, indem es das Argument dahin verfälscht, es müsse eine Vielzahl gleichartiger Bemühungen sein, die die Gefahr schließlich abwehren. Das aber ist Unfug, den niemand behauptet hat. Wie gesagt: Es geht darum, ob das Verhalten sinnvoller Bestandteil einer Strategie ist.

Das Gericht argumentiert wie derjenige, der die Grundsteinsetzung für untauglich zur Erbauung eines Hauses hält, weil fünfzigtausend Grundsteine übereinander gestapelt ja kein Haus ergäben. Natürlich tun sie das nicht - man braucht eine übergeordnete Strategie verschiedener ineinandergreifende Fachgebiete, um schließlich ein Gesamtergebnis zu erreichen. Diese simple Erkenntnis hätte man von einem Oberlandesgericht wohl erwarten dürfen. 

Jetzt aber wird es noch etwas komplizierter.


3. Ziviler Ungehorsam

Das Gericht stellt fest, dass das Verhalten auch nicht durch "zivilen Ungehorsam" gerechtfertigt werde. Zu diesem Ergebnis kommt das OLG aufgrund eines Umkehrschlusses aus Art. 20 Abs. 4 GG, dem Widerstandsrecht. Dieses Recht zum Widerstand beschränke sich auf Situationen, in denen "die grundgesetzliche Ordnung der Bundesrepublik im Ganzen bedroht" sei, woraus umgekehrt resultiere, dass zu allen anderen Zeiten eine Friedenspflicht bestehe. Wörtlich weiter: 


"Wer auf den politischen Meinungsbildungsprozess einwirken möchte, kann dies daher in Wahrnehmung seiner Grundrechte aus Art. 5 GG (Meinungsfreiheit), Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit), Art. 17 GG (Petitionsrecht) und Art. 21 Abs. 1 GG (Freiheit der Bildung politischer Parteien), nicht aber durch die Begehung von Straftaten tun". 


Dumm nur: Um den politischen Meinungsbildungsprozess geht es hier gar nicht. Es geht um die Beseitigung einer allgemeinen Gefahr, die aus dem Klimawandel resultiert. Der Klimawandel ist eine wissenschaftlich bestätigte Tatsache, keine Meinung, und erst recht keine politische. 

Der polemische Nachsatz ("... nicht aber durch die Begehung von Straftaten...") zieht die gesamte Begründung durch ihre offensichtliche Zirkularität ins Unseriöse und ist, wie ich finde, eines Obergerichtes unwürdig. Ob eine rechtswidrige Straftat vorliegt, soll ja gerade geprüft werden; das OLG setzt es hier mal schlankweg voraus. Das hat mit juristisch sauberer Argumentation nichts mehr zu tun. Wer so argumentiert, will nicht begründen, sondern postulieren.

So weit, so unerfreulich. Man hätte sich von einem Gericht, das in letzter Instanz über eine derart zentrale Frage entscheidet, zumindest erwartet, dass es sich mit dieser Frage ernsthaft auseinandersetzt. Hierzu war das OLG Celle noch nicht bereit. Hoffen wir, dass andere Obergerichte zukünftig sorgfältiger arbeiten.

Allerdings täte die Klimabewegung aus meiner Sicht gut daran, auf den Begriff "Ziviler Ungehorsam" zukünftig zu verzichten. "Ziviler Ungehorsam" ist kein Rechtfertigungsgrund, weil es kein Rechtsbegriff ist, und somit zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen geradezu einlädt. "Ziviler Ungehorsam" ist seiner Bedeutung nach wohl auch etwas anderes als das Widerstandsrecht aus Art. 20 Abs. 4 GG.

In seiner englischen Urform geht er auf einen Essay von Henry David Thoreau zurück ("On the duty of civil disobedience"), der seine Steuern nicht bezahlt hat, weil er der (durchaus sympathischen) Auffassung war, dass ein Staat, der die Sklaverei unterstütze, seine Steuern nicht verdiene. Die Argumentation ist allerdings für meine Begriffe arg staatsfeindlich geraten und wird einem modernen Rechtsstaat nicht gerecht, wenn auch die Lektüre des Essays sich immer lohnt.



Dienstag, 13. Dezember 2022

Die letzte Generation - Die Rechtfertigung von oder gegen Klima-Aktivisten, Teil 2


Was bisher geschah

Thomas Fischer hatte ja in dem hier kritisierten Beitrag die Frage behandelt, ob Notwehr gegen Klima-Aktivisten gerechtfertigt sei; dabei war er davon ausgegangen, dass die Aktionen der Klimaaktivsten selbst in der Regel Nötigung oder versuchte Nötigung wären und hatte auf einen früheren Beitrag verlinkt, in dem er dies näher ausführt. Wir wollen uns daher auch diesen Beitrag mal etwas näher anschauen.


Der "Gewalt"begriff

Der erste Teil des Beitrages ist auch ein Parforce-Ritt durch die Geschichte des Gewaltbegriffs, hier sei das Wesentliche daher nur kurz zusammengefasst: Der Tatbestand der Nötigung, § 240 StGB setzt Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel voraus; für uns interessant ist insbesondere der Begriff der Gewalt. In früheren Urteilen sagte der Bundesgerichtshof, für die Annahme von Gewalt reiche auch psychische Einwirkung. 1995 kippte das Bundesverfassung diese schon begrifflich recht befremdlich wirkenden Ansicht in seiner "Sitzblockaden"-Entscheidung (bei Fischer heißt es wohl irrtümlich 1992). Danach seien Sitzblockaden keine "Gewalt", weil sie bloß psychisch auf die blockierten Autofahrer einwirkten. 

Diese Niederlage wollte der Bundesgerichtshof nicht auf sich sitzen lassen, und um bei Sitzblockaden doch zu einer Verurteilung wegen Nötigung kommen zu können, änderte er seine Argumentation: Man stellte jetzt nicht mehr auf die direkt vor den Blockierern stehenden Fahrzeuge ab, die ja nur die blockierenden Menschen vor sich hatten und aus rein psychischem Druck nicht fuhren, theoretisch aber hätten fahren können; man stellte stattdessen auf die hinter den ersten Fahrzeugen befindlichen Fahrzeuge in der "Zweiten Reihe" ab, denen die Fahrt durch die in der ersten Reihe befindlichen Fahrzeuge unmöglich war. Zumindest das wäre Gewalt und somit gegenüber diesen Fahrern eine Nötigung. Das Bundesverfassungsgericht hielt diese "Zweite-Reihe-Rechtsprechung" im Jahr 2011. Seither sind Sitzblockaden auch von höchster Stelle her wieder Gewalt und somit potentiell auch wieder Nötigung.


Kritik an der Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BGH

Überzeugend ist die Zweite-Reihe-Rechtsprechung nicht. Da aber gegen das Bundesverfassungsgericht zu argumentieren einigermaßen vergebliche Liebesmüh' ist, will ich es hier bei einem Einschub dazu belassen. Wen die Theorie nicht interessiert, der lese einfach nach dem Einschub weiter. 

Die Einwirkung auf die erste Reihe ist unstreitig keine Gewalt, da nicht physisch vermittelt. Wenn nun die Einwirkung auf die Zweite Reihe auf einmal Gewalt sein soll, dann fragt man sich zwingend, wo diese Gewalt auf einmal herkommen soll: Von den Blockierern jedenfalls nicht, die sitzen für die zweite Reihe genauso da wie für die erste. So funktioniert die Logik der Zweiten-Reihe-Rechtsprechung dann auch nur, indem man annimmt, dass die erste Reihe von den Blockierern als Werkzeug gegen die zweite Reihe genutzt würde. Das wirkt schon von der Struktur her einigermaßen gedrechselt, vor allem aber ist das genutzte Bild schief: Denn wir haben ja gerade festgestellt, dass gegen die erste Reihe nur psychisch eingewirkt wird - wie aber kann jemand oder etwas "Werkzeug" sein, wenn die Einwirkung eine rein psychische ist? Das wäre Telekinese, und die gibt es dann doch wohl eher nicht. Aber weiter im Thema bei Fischer:


Verwerflichkeit

Der Kern des Nötigungstatbestandes ist nämlich nicht die Gewalt, sondern deren Verwerflichkeit. Das ist das Verhältnis zwischen Gewalt und angestrebtem Ziel. Bei dieser Zweck-Mittel-Relation hat nach herrschender Rechtsprechung eine "umfassende Gesamtbewertung" stattzufinden, die auf den konkreten Einzelfall abstellt. Wer, wie, was, wo, wem, wie doll, wie lange - aber eines nicht: warum.

Fernziele, so der Bundesgerichtshof, haben bei der Bewertung außer Betracht zu bleiben. Ob man für den Weltfrieden blockiert oder für die Einführung der Todesstrafe: das hat der Justiz völlig egal zu sein. Es kommt nur darauf an, ob das Mittel (Blockade) zu dem verfolgten Ziel (Behinderung von Verkehrsteilnehmern) außer Verhältnis steht. Tut es das, ist der Tatbestand der Nötigung erfüllt. Fertig. Oder doch nicht? 

Dazu gibt es noch einiges zu sagen, zu dem ich bei Thomas Fischer auch hier nichts finde.


Fernziel

Der Begriff des "Fernziels" ist ausgesprochen unscharf und es fragt sich, ob man Mittel und Ziel überhaupt so klar auseinanderhalten kann. Das Ziel der Blockierer ist ja nicht zu blockieren - das ist das Mittel - ihr Ziel ist es, auf etwas aufmerksam zu machen. Die Behinderung von Verkehrsteilnehmern, die Thomas Fischer als Nahziel qualifiziert, ist ihrerseits wohl eher Mittel als Zweck. So fragt sich, wie fern etwas sein muss, um Fernziel in diesem Sinne zu sein. Diese Diskussion findet spätestens jetzt auf einer rein sprachlichen Ebene statt und es fragt sich, ob das so gewollt sein kann.

Auch hätte ich erhebliche Bedenken, ob ein Verfassungsziel, wie es der Klimaschutz dank Art. 20a GG ist, so einfach zum irrelevanten "Fernziel" degradiert werden kann. Gemeint sind mit "Fernziel" eigentlich politische Motivationen innerhalb des Meinungsspektrums; kann aber etwas lediglich wie eine (von diversen denkbaren) politischen Motivationen behandelt werden, wenn es die Verfassung selbst fordert? Dadurch, dass der Klimaschutz Verfassungsrang hat, müsste er sich zumindest bei der Mittel-Zweck-Relation auf beiden Seiten der Waage wiederfinden, und dann käme es bei der Abwägung im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung im konkreten Fall tatsächlich nur noch darauf an, welches Übel im Endeffekt schwerer wiegt. Kann die versuchte Weltrettung verwerflich sein, nur weil Väterchen V mit seinem Kraftfahrzeug deshalb nicht rechtzeitig zum Abendessen kommt?  Das wird man kaum mit "ja" beantworten können.


Klimanotstand

Am bemerkenswertesten ist aber: Thomas Fischer hört nach der Verwerflichkeitsprüfung einfach auf und geht davon aus, dass die verwerfliche Handlung jetzt jedenfalls auch strafbar wäre. Das ist aber nicht so, und das sollte er besser wissen, er hat schließlich den meistverkauften Kommentar zum Strafgesetzbuch geschrieben. 

In der Prüfung sind wir auch bei festgestellter Verwerflichkeit immer noch auf der Ebene der Rechtfertigung, und dort gibt es auch noch die allgemeinen Rechtfertigungsgründe. Die sind bei der Nötigung genauso zu prüfen wie bei jedem anderen Delikt. Und bei den allgemeinen Rechtfertigungsgründen ist besonders einer interessant, nämlich der rechtfertigende Notstand, § 34 StGB

Das Vorliegen dieses Rechtfertigungsgrundes hat andere Voraussetzungen als die Verwerflichkeit (s. o.). Es erfordert vor allem eine gegenwärtige Gefahr. Da wurde bezüglich des Klimawandels sowohl am Vorliegen einer Gefahr herumgemäkelt als auch an deren Gegenwärtigkeit, ernsthaft abstreiten kann man beides mittlerweile wohl nicht mehr. Außerdem scheinen viele der Kritiker den Begriff der Gefahr (mit gewissem Grad der Wahrscheinlichkeit eintretender Schaden) mit dem des Schadens zu verwechseln. Mittlerweile sind wir nach wissenschaftlichen Erkenntnissen so weit, dass man wohl sogar von einem bereits eingetretenen und sich immer weiter vertiefenden Schaden sprechen muss, so dass diese Prüfung gänzlich zum Selbstgänger wird.

Sodann müsste eine Handlung, um durch Notstand gerechtfertigt zu sein, erforderlich sein, d. h. die Gefahr dürfte nicht anders abwendbar sein als eben durch die vorgeworfene Handlung.

An dieser Stelle müsste eigentlich die Diskussion geführt werden, was eigentlich alles gerechtfertigt ist, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen und die Verantwortungsträger zum Handeln zu bewegen. Wenn man es sich einfach machen wollte, könnte man vom Ergebnis her denken und sagen: Von den legalen Möglichkeiten war bisher jedenfalls nichts geeignet, die erforderliche Aufmerksamkeit zu schaffen, denn außer ein paar schönen Worten und hehren Versprechungen hat sich praktisch nichts getan. Offensichtlich bedarf es deutlicherer Taten, um die Aufmerksamkeit der Wähler und ihrer Vertreter darauf zu lenken, dass sofortiges Handeln erforderlich ist. 

Insoweit kann ich dem Ergebnis von Thomas Fischer in keiner Weise zustimmen. 





Dienstag, 6. Dezember 2022

Die letzte Generation - Rechtfertigung von oder gegen Klimaaktivisten? Teil 1

 

Einleitung

In der Legal Tribune Online (LTO) ist am 04.12.2022 ein Beitrag des ehemaligen Vorsitzenden Richters am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Thomas Fischer erschienen zum Thema "Notwehr gegen Blockade-Demonstranten", nachzulesen hier. Der Beitrag behandelt die aktuelle Frage möglicher Rechtfertigungsgründe im Zusammenhang mit Blockaden von Klimaaktivisten. Er tut dies auf recht seltsame Weise und ist - untypisch für Thomas Fischer - voll von Denkfehlern und falschen Annahmen.


Ziviler Ungehorsam

Zum Einstieg macht uns Thomas Fischer zunächst mit dem Begriff des "zivilen Ungehorsams" vertraut, auf den sich die Klimaaktivisten gerne berufen und den Fischer als "politischen Kampfbegriff und keine juristische Kategorie" bezeichnet. Nun ist der Begriff "Kampfbegriff" in dieser Verwendung wohl selbst einer, aber Recht hat Fischer insoweit, als "ziviler Ungehorsam" keine juristische Kategorie ist. Das hat allerdings meines Wissens auch nie jemand behauptet; ziviler Ungehorsam wird von den Aktivisten als politische Kategorie benutzt, die deren Ansicht nach womöglich sogar über dem Recht steht. Das ist aber ein anderes Thema. Der Einstieg in den Diskurs ist damit eher eine Nebelkerze.


Merkwürdige Systematik

Aber auch die sonstige Herangehensweise von Thomas Fischer ist kommentierungsbedürftig. Anders als die meisten anderen Beiträge zum Thema steigt er nicht mit der Frage ein, ob die Blockadeaktionen der Aktivisten eine Straftat darstellen oder möglicherweise gerechtfertigt sind; Thomas Fischer setzt an der Frage an, ob mögliche Gewalt gegen Klimaaktivisten gerechtfertigt sein könnte. Die Perspektive lässt bereits erahnen, zu welchem Ergebnis Fischer kommen möchte. 

Sein Ansatz ist aber auch systematisch zweifelhaft, setzt doch jede Notwehr als erstes einen rechtswidrigen Angriff voraus. Ein rechtswidriger Angriff - und damit eine mögliche Rechtfertigung durch Notwehr - scheidet aus, wenn die Aktionen der Aktivisten selbst gerechtfertigt wären; dies hat also so oder so zuerst geprüft zu werden. Diese Prüfung erspart sich Thomas Fischer vollständig, er schreibt stattdessen: "Bei den Straßenblockaden der "Letzten Generation" handelt es sich in der Regel (nicht stets) um vollendete oder versuchte Nötigungen mit dem Nötigungsmittel der Gewalt, also um eine Straftat..." 

Das ist - mit Verlaub - nicht nur strafrechtlich falsch, es ist im Hinblick darauf, dass der Beitrag wohl hauptsächlich juristisch interessierte Laien ansprechen soll, schlicht unseriös.

Fischer legt zum Abschluss dieses Abschnitts noch einen drauf: Er beruft sich darauf, die blockierten Autofahrer würden "vollkommen rechtmäßig handeln", denn es gäbe, "kein allgemeines, frei zugängliches Recht, andere, unbeteiligte Personen mittels Gewalt zum Werkzeug eigener Meinungskundgebung zu machen." Das klingt gut, ist aber falsch. Denn darauf, ob die beeinträchtigten Personen (Autofahrer) rechtmäßig handeln, kommt es bei einer möglichen Rechtfertigung der Aktivisten gar nicht an. Die Rechtfertigung einer Tat ist nicht daran gebunden, ob die durch sie beeinträchtigten Personen sich rechtmäßig oder unrechtmäßig verhalten haben. Insbesondere der Rechtfertigungsgrund des Notstandes, § 34 StGB, knüpft an völlig andere Voraussetzungen an, namentlich eine "gegenwärtige Gefahr". Dazu kommen wir später, wenn wir die Rechtslage richtig prüfen.

Fischer wiederholt im nächsten Abschnitt zunächst sein Diktum, es gebe "keine rechtliche Grundlage dafür, mittels gewaltsamer Blockaden und Instrumentalisierung unbeteiligter Dritter" ihre Meinung zu offenbaren, und macht einige Ausführungen dazu, dass es beim Abwägungsprozess keine absoluten Kriterien, Maßstäbe und Ergebnisse gebe. Das klingt alles ganz schön, eine Prüfung der rechtlichen Voraussetzungen kann es aber nicht ersetzen. 


Gewalt

Mit einem Detail müssen wir uns außerdem etwas genauer beschäftigen, und das ist das von Fischer benutzte Wort "gewaltsam" - legen doch gerade die Aktivisten großen Wert darauf, dass ihre Aktionen gewaltfrei seien. Fischer selbst hat seiner Vorstellung von Gewalt auch einen Absatz gewidmet, der hier vollständig wiedergegeben sei:


"Daher ist es erstaunlich, dass das Vorliegen von "Gewalt" von Beteiligten und Unterstützern der Blockierer lebhaft bestritten wird, während zugleich von denselben Personen und in der Gesellschaft eine extensive Ausweitung des "Gewalt"-Begriffs selbst in Bereiche allgemeinster psychischer Beeinträchtigung und Beeinflussung befürwortet wird. Danach soll "(psychische) Gewalt" etwa schon bei persönlich gewendeter Missfallenskundgebung oder allgemein "grenzverletzendem" Verhalten vorliegen. Die strafrechtliche und verfassungsrechtliche Rechtsprechung ist insoweit wesentlich enger un an der Garantie der Tatbestandsbestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG) orientiert. Die Argumentation der Blockierer verwechselt überdies "Gewalt" mit "Gewalttätigkeit"."


Diese Formulierung findet bei den Kritikern der "woken" bubble sicherlich großen Anklang, von einer seriösen Sachdarstellung ist sie allerdings meilenweit entfernt. Gleich, wie man zum Gewaltbegriff steht: Auf die Frage der Gewalt kommt es bei der Rechtfertigung nicht an. Überhaupt nicht. Auch dieser Exkurs von Fischer ist eine reine Nebelkerze, und jetzt wird es wirklich ärgerlich.


Der Rest

Der Rest ist bei Fischer etwas Geplänkel zu Sozialadäquanz, Erforderlichkeit und Gebotenheit der Notwehr gegen Klimaaktivisten, nach dem er am Ende zum Ergebnis gelangt, man dürfe Blockierer "mit Gewalt gewaltsam beiseite räumen". Der Furor ist da so mit ihm durchgebrannt, dass er den Begriff der Gewalt gleich zweimal hintereinander gebraucht. Die zentrale rechtliche Prüfung, ob es sich bei einer Straßenblockade überhaupt um eine rechtswidrige Tat handelt, bleibt Fischer dagegen bis zum Schluss schuldig.

Wir werden die hier in Kürze im 2. Teil nachliefern.


Freitag, 1. Oktober 2021

Meinungsäußerungsfreiheitsgesetz, im Grundgesetz verankert


Unter dem Hashtag #allesaufdentisch wurden am 30.09.2021 eine größere Anzahl Videos ins Netz gestellt, in denen jeweils ein Künstler mit einem "Experten" diskutiert. Die alle zu gucken, fehlt mir die Zeit und auch die Geduld, deshalb habe ich mir ein für mich besonders interessant scheinendes Video herausgesucht. Als Rechtsanwalt habe ich mich da natürlich für den Dialog zwischen dem Hamburger "Tatort-Kommissar" Wotan Wilke Möhring und dem Presserechtsanwalt Joachim Steinhöfel entschieden. Man findet es hier

Das Thema des Gesprächs ist "Meinungsfreiheit". Das ist ein großes Thema und von zumindest einem Teilnehmer an dem Gespräch erwartet man von Berufs wegen umfangreiche Kenntnisse darüber: Joachim Steinhöfel führt sich dann auch gleich als derjenige ein, der seit 2018 zahlreiche Prozesse wegen Löschungen und Sperrungen im Internet geführt und die allermeisten davon gewonnen hat.

Da fängt es dann aber auch schon an zu haken: An dieser Stelle fällt Wotan Wilke Möhring ihm ins Wort, damit sei man ja schon beim Thema, man wolle über Meinungsfreiheit und Zensur sprechen. Über Zensur wird man dann doch nicht mehr sprechen, das verkündet Wotan Wilke Möhring gegen Ende des Videos, entweder weil er sich in der Zeit vergaloppiert hat oder weil er es am Anfang schlicht falsch angekündigt hat, man weiß es nicht. Meinungsfreiheit also.

Das ist ein weites Feld, Luise, und es hätte sich angeboten zunächst einmal zu erläutern, was das eigentlich bedeutet, zumal man einen ausgewiesenen Fachmann im Gespräch hat. Aber der macht keinerlei Anstalten, die teilweise arg zusammenhanglose Rede Möhrings zu strukturieren oder in juristisch einigermaßen zutreffende Bahnen zu lenken. Möhring redet von einem "Meinungsäußerungsfreiheitsgesetz", das wir hätten, und das "verankert im Grundgesetz" wäre, und Steinhöfel sitzt daneben und lässt ihn reden. Zu der Vorgängeraktion #allesdichtmachen sagt Möhring, dass sei "ja nicht mal Meinung, sondern Kunst" gewesen, und Steinhöfel lässt auch diese Chance ungenutzt verstreichen, Art. 5 des Grundgesetzes mal zu erläutern. Man mag das für unbedeutende Fehler eines Fachfremden halten - aber warum ergreift Steinhöfel nicht die Gelegenheit, dem Zuschauer zu erklären, worum es eigentlich geht? 

Stattdessen doziert Steinhöfel bald über Hassrede; die Begriffskritik ist einigermaßen berechtigt, aber dann bringt er das Gespräch auf den Hamburger Innensenator, im Internet von einem User als "Pimmel" bezeichnet, was eine Strafanzeige und später eine Hausdurchsuchung nach sich zog. Die Hausdurchsuchung ist hochproblematisch, was aber mit der Meinungsfreiheit nichts nichts zu tun hat. Die Meinungsfreiheit wiederum hat höchstens indirekt etwas mit Youtube oder Facebook zu tun, die einigermaßen willkürlich Beiträge löschen oder Nutzer sperren. Die besagte Durchsuchung hat auch nicht etwa der Hamburger Innensenator angeordnet, sondern ein unabhängiges Gericht, hier aber wird munter weiter der Eindruck erweckt, es wäre die Politik, die in geschützte Rechte eingegriffen hätte. 

Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht, ein Recht gegen den Staat, nicht gegen YouTube oder Facebook. Das wäre einigermaßen einfach zu erklären, aber über zwanzig Minuten lang sagt das keiner, sondern zwei unterschiedlich begabte Redner tun so, als wäre Angela Merkel daran Schuld, dass YouTube Beiträge löscht und Andi Grote dafür verantwortlich, dass die Polizei eine Hausdurchsuchung macht. Steinhöfel hat gleich eine ganze Handvoll skandalöser Beispiele, in denen Prominente sich gegen aus ihrer Sicht übergriffige Meinungsäußerungen gewehrt haben, ein Mitglied des Rundfunkrates wird erwähnt, der den Münsteraner "Tatort-Kommissar" Jan Josef Liefers für dessen Beitrag bei #allesdichtmachen kritisiert - das alles soll angeblich die Meinungsfreiheit gefährden. Aber ist nicht gerade das genau die Meinungsfreiheit, von der hier angeblich geredet wird?

An einer Stelle spricht Wotan Wilke Möhring etwas an, das er "Recht auf Widerspruch" nennt und bezieht es ulkigerweise auf sich und seine Äußerungen. Auf die Idee, dass damit eher eine Pflicht gemeint ist, Widerspruch gegen die eigene Meinung zu ertragen, auf diese Idee bringt auch Steinhöfel ihn nicht. Und so empört man sich gemeinsam weiter und merkt nicht, dass man genau das macht, was man vorgibt zu kritisieren.

Dadurch vermitteln beide Diskutanten nicht ganz unerwartet den Eindruck, dass es ihnen eigentlich nicht um die Meinungsfreiheit geht, sondern vielmehr um bestimmte Meinungen, die sie gerne noch häufiger in der Öffentlichkeit sehen würden, die außer ihnen aber nicht sehr viele Menschen vertreten. Das ist dann vielleicht doch nur Demokratie.

Wer etwas über Meinungsfreiheit und ihre Grenzen lernen möchte, sollte sich dieses Werk sparen und lieber ein beliebiges Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 5 GG lesen. Vielleicht werden ihm (m/w/d) dann die Augen aufgehen.



Dienstag, 18. Mai 2021

Vom Beruf unserer Zeit zum Strafen

 

Was?

Der Bundestag hat mal wieder ein neues Strafgesetz beschlossen. Dem Abschnitt mit der Überschrift "Beleidigung" soll mit § 192a StGB eine neue Vorschrift hinzugefügt werden, die "Verhetzende Beleidigung". 


„§ 192a Verhetzende Beleidigung 

Wer einen Inhalt (§ 11 Absatz 3), der geeignet ist, die Menschenwürde anderer dadurch anzugreifen, dass er eine durch ihre nationale, rassische, religiöse oder ethnische Herkunft, ihre Weltanschauung, ihre Behinderung oder ihre sexuelle Orientierung bestimmte Gruppe oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, an eine andere Person, die zu einer der vorbezeichneten Gruppen gehört, gelangen lässt, ohne von dieser Person hierzu aufgefordert zu sein, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“


Die Vorschrift ist sprachlich und inhaltlich einigermaßen missglückt. An ihr lassen sich aber sehr schön einige grundsätzliche Probleme aktueller Strafgesetzgebung aufzeigen. Zunächst kommen wir aber mal zur Motivation für dieses Novum. Warum meint die Gesetzgebung, dass wir diese Norm bräuchten?


Warum?

Warum ein solches Delikt notwendig geworden sei, ist einer "Formulierungshilfe der Bundesregierung" zu entnehmen, veröffentlicht in einer Pressemitteilung des BMJV vom 12.05.2021. Kurz gefasst sei Begründung hierfür, dass es Verhaltensweisen gebe, die weder vom Tatbestand der Volksverhetzung, § 130 StGB, noch von dem der Beleidigung, § 185 StGB, erfasst würden, aber gleichsam strafwürdig seien. Gemeint ist das Versenden von Schreiben an Einzelpersonen oder Gruppen, mit denen bestimmte Gruppen oder Minderheiten beschimpft, bösartig verächtlich gemacht oder verleumdet würden. Was das im einzelnen heißt, schauen wir uns später noch an. 

Angeblich sei ein derartiges Verhalten bisher nicht strafbar, weil es für eine Volksverhetzung an der dafür erforderlichen "Störung des öffentlichen Friedens" fehle, für eine Beleidigung am konkreten Bezug zu der betroffenen Person. 

Diese Begründung taucht so oder ähnlich tatsächlich in einigen - freisprechenden - Gerichtsentscheidungen auf, z. B. bezüglich der Verwendung von dem Judenstern nachempfundenen Emblemen mit der Aufschrift "Impfgegner". Allerdings erscheint diese Begründung auch dort schon problematisch, weil sie möglicherweise gar nicht stimmt. Denn der "öffentliche Frieden" kann sehr wohl auch durch einzelne Handlungen gestört werden, auch der Bundesgerichtshof hat das immer wieder bestätigt, davon kann ich Ihnen aus erste Hand berichten. Und den "Bezug zu der betroffenen Person" kann man durchaus auch anders als durch direkte Anrede herstellen. Das Problem ist weniger, dass das Gesetz das nicht zuließe, das Problem ist mehr, dass die Instanzgerichte insbesondere die Vorschrift der Volksverhetzung offenbar sehr ungerne anwenden, meistens mit äußerst fraglichen Begründungen. Über die Motive dafür wollen hier mal nicht spekulieren, jedenfalls betreffen entsprechende Vorwürfe in der ganz überwiegenden Zahl Personen aus dem politisch "rechten" Bereich. Ob man Gerichten, die sich der Anwendung einer Vorschrift hartnäckig widersetzen, beikommt, indem man einfach eine neue Vorschrift ähnlichen Inhaltes erlässt, mag man bezweifeln. Aber sei es so. Das ist nicht die Hauptkritik.


§ 192a StGB (neu)

Nun soll es also diese neue Vorschrift retten. Wollen wir mal sehen, was der Bundestag uns da vor die Tür gelegt hat. Schon nach fünfmaligem Lesen hatte ich als Strafverteidiger mit zwanzigjähriger Berufserfahrung den einigermaßen soliden Eindruck, ich hätte die Formulierung verstanden. Immerhin!

Tathandlung ist, "einen Inhalt (erste Zeile) an Dritte "gelangen" zu lassen (sechste Zeile). Das versteht man allerdings erst, wenn man das Verb endlich gefunden hat. Darauf muss man immerhin fünf lange Zeilen warten, was auch beim geübten Leser das Verständnis durchaus erschweren kann. 

Zwischen direktem Objekt ("Inhalte") und zusammen gesetztem Verbum ("gelangen lassen") wird fünf Zeilen lang beschrieben, wie die erwähnten Inhalte denn beschaffen sein müssen. Das stellt man am besten mittels einer Art Baumdiagramm dar: 

Inhalt

geeignet,

die Menschenwürde anderer anzugreifen 

 durch (alternativ)

  • beschimpfen
  • böswillig verächtlich machen
  • verleumden 

 anderer

(und jetzt kommt's:) aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer durch folgende Eigenschaften bestimmten Gruppe (alternativ):


        • nationale 
        • religiöse 
        • rassische
        • ethnische Herkunft (jeweils alternativ)
        • Weltanschauung
        •  Behinderung
        • sexuelle Orientierung.                                    

                         

Strukturelles

Eigentlich zeichnet sich ein Gesetz dadurch aus, dass es generell-abstrakt ist, d. h., dass eine Vielzahl zahlenmäßig unbestimmter Sachverhalte in einer Vielzahl von Fällen regelt. Aufzählungen wie die oben mühsam dem Normtext abgerungene sind da kontraproduktiv: Schon melden sich die ersten und klagen, dass man auch wegen seiner sexuellen Identität angegriffen werden könne, diese aber im Text fehle. Was nun? 

Dazu lassen sich grundsätzlich zwei Meinungen vertreten:

Entweder man sagt, die Aufzählung sei abschließend, dann wäre die sexuelle Identität kein taugliches Merkmal im Sinne dieser Vorschrift, dessentwegen man beleidigt werden könnte. Oder man sagt, die Aufzählung sei offen, dann könnte auch die sexuelle Identität noch unter die löchrige Bettdecke der Norm schlüpfen. Allerdings fragt sich dann, warum man überhaupt eine Aufzählung gewählt hat und nicht, wie es einer Norm eigentlich eigen sein sollte, einen umfassenden Oberbegriff. 

Der Grund für diesen Missgriff scheint mir im Gesetzgebungsverfahren zu liegen: Man sieht an der Norm, wessen Lobbyisten am lautesten geschrien haben. Die hat man einfach namentlich genannt und sich die Mühe, eine abstrakte Formulierung zu finden, gleich ganz gespart. Im Ergebnis werden sich die Juristen demnächst also mit der Frage herumschlagen müssen, was nun mit denen ist, die nicht namentlich erwähnt werden. Genau so macht man eine Norm nicht. Ich meine ja nur. 

Definitionen

Die eigentlich juristische Arbeit liegt aber noch vor uns: Jeder dieser Begriffe und jedes der Verhältnisse der einzelnen Begriffe zueinander bedarf der juristischen Auslegung. Wenn Sie jetzt sagen: Ja, aber einige dieser Begriffe tauchen doch auch an anderer Stelle des Gesetzes bereits auf - kein Problem. Dann diskutieren wir eben eine Ebene höher, ob der Gebrauch des Wortes an beiden Stellen zwingend ein identischer sein muss. 

Zur Übung habe ich hier mal ein paar Fragen, die mir so spontan zu der Norm einfallen:

  • Wann ist ein Inhalt nicht nur beleidigend, sondern geeignet, die Menschenwürde anzugreifen?
  • Was ist "beschimpfen"?
  • Was bedeutet "böswillig verächtlich machen"? 
  • Bei wem muss dieses Böswilligkeit vorliegen? Beim Täter? Beim Verfasser des Inhaltes?
  • Wie stellt man diese Böswilligkeit fest?
  • Was ist diese Böswilligkeit juristisch? Objektive Voraussetzung der Tat? Subjektives Tatbestandsmerkmal? 
  • Was ist eine "Behinderung"? Zählt Lernschwäche darunter? Autismus? Fettleibigkeit?
  • Was ist eine "Weltanschauung"? Sind HSV-Fans auch betroffen? 
  • Was ist eine religiöse Herkunft? Gilt die Norm für Konvertiten etwa nicht? 
Und vor allem:

  • Was macht auch noch der Begriff "rassische Herkunft" in diesem miserablen Text? 
Hat man nicht gerade erst - nach bloß siebzig Jahren - entdeckt, dass es die in Artikel 3 des Grundgesetzes aufgeführte "Rasse" gar nicht gibt? Und jetzt soll man jemanden wegen seiner "rassischen Herkunft" verhetzend beleidigen können? Was soll denn eine "Rasse" sein? Das, was die Nazis inzwischen wieder dafür halten? Na, herzlichen Dank. 

Fazit

Ich freue mich. Ich bin schließlich Strafverteidiger. Ich werde mich mit allen diesen Fragen beschäftigen dürfen. Für Geld. Ihr Geld. 

P.S. 

Die Überschrift spielt an auf einen berühmten Aufsatz des noch berühmteren Juristen Friedrich Carl von Savigniy (der mit dem Platz in Berlin), 1779 - 1861. Der hat 1814 eine Streitschrift verfasst mit dem Titel: "Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft." Seine These: Diese Zeit hat keinen Beruf zur Gesetzgebung. Das ganze ist als "Kodifikationsstreit" in die Geschichte eingegangen. Aber das ist eine andere Geschichte.


 

 

 

 



Donnerstag, 29. April 2021

Freiheit und Willkür in Zeiten von COVID19

 Ausgangspunkt


In der Diskussion um den Umgang mit der Pandemie fällt immer wieder auf, dass einige Menschen ein merkwürdiges Verständnis von Freiheit propagieren. Als zufällig gewähltes Beispiel finden Sie hier einen Beitrag meines Rechtsanwaltskollegen Gerhard Strate aus dem "Cicero". 

Zusammengefasst sieht Gerhard Strate in den bei Schriftlegung geplanten, mittlerweile in Kraft getretenen Änderungen des Bundesinfektionsschutzgesetzes durch das 4. Bevölkerungsschutzgesetz (sog. Bundesnotbremse) "totalitäre Bestrebungen", die sich von der "ursprünglichen Bedeutung" der Grundrechte entfernten. Angeblich würden die Grundrechte - insbesondere Art. 2 GG - vom "Abwehrrecht des schutzlosen Individuums gegen die Zumutungen eines übermächtigen Kollektivs" durch Ausgangssperre und Lockdown "zur schnöden Versicherungspolice profanisiert". Nach diesen Maßstäben, so unkt er, müsste man demnächst auch bei Grippewellen(!) Maskenpflicht anordnen, Autos und Fahrräder ebenso verbieten wie Alkohol und Tabak, letztlich gar Haushaltsleitern, Küchenmesser und Strom, weil allesamt in irgendeiner Form Todesopfer fordern. 

Aus dem Text greife ich mal zwei Begriffe heraus, nämlich "Eigenverantwortung" und "Allgemeines Lebensrisiko", bevor ich zur Freiheit zurückkomme.


Eigenverantwortung


Staatliche Regelungen zur Pandemiebekämpfung (er nennt sie "Zwangsmaßnahmen") lehnt Gerhard Strate ab und setzt sie in Gegensatz zur Eigenverantwortung, auf die auch er setzen will. Das ist nicht neu, sondern taucht bei vielen Skeptikern der Corona-Maßnahmen auf. Schauen wir uns also einmal an, was "Eigenverantwortung" eigentlich bedeutet und ob das wirklich im Gegensatz zu staatlichen Regelungen steht. 

"Eigenverantwortung" bedeutet (zitiert nach Wikipedia) "die Bereitschaft und Pflicht, für das eigene Handeln und Unterlassen Verantwortung zu übernehmen". Das dürfte sich auch mit dem Allgemeinverständnis decken. Es heißt, jeder muss im Rahmen der geltenden Gesetze die Konsequenzen seines Tuns tragen - mehr nicht. Wer jemanden erschlägt, muss damit rechnen, wegen Totschlags verurteilt zu werden. Mit Art und Umfang oder gar Berechtigung der jeweiligen Regelung hat das überhaupt nichts zu tun. Man könnte hier in eine Diskussion über den Rechtspositivismus einsteigen, aber das ersparen wir uns mal.

Im Zusammenhang mit COVID19 soll mit dem Ruf nach mehr Eigenverantwortung offenbar ein Weniger an Regelungen gefordert werden. Das ist nach dem zitierten Wortsinn ein Widerspruch in sich: Ein weniger an Regelungen würde nämlich auch zu einem weniger an Eigenverantwortung führen: Menschen müssten für manche Schäden, die sie anrichten, nicht mehr haften. Das kann niemand wollen, würde es doch den Rechtsstaat und das Vertrauen in ihn destabilisieren. 

"Eigenverantwortung" erweist sich so als gefährliche Nebelkerze.


Allgemeines Lebensrisiko


Das allgemeine Lebensrisiko, von Gerhard Strate zum Prinzip erhoben, bezeichnet zunächst einmal alle Gefahren, die das Leben so mit sich bringt. Auf einige davon reagiert der Staat, auf andere nicht. Das hängt davon ab, wie groß der Staat die Gefahr einschätzt und wie die Abwägung der Rechtsgüter ausfällt. 

Nach aller Gesetzgebung bleiben einige Gefahren übrig, die man erdulden muss, ohne dass der Staat einen vor ihnen beschützt. Die Gefahr, bei Regen nass zu werden, ist so eine Gefahr, oder die Gefahr, dass einem nach übermäßigem Nahrungsgenuss irgendwann die Hose nicht mehr passt. Tatsächlich hat der BGH das mal für die Gefahr, in ein Strafverfahren verwickelt zu werden, entschieden. Zivilrechtliches Äquivalent ist die Gefahr, von anderen zu privatrechlichen Leistungen aufgefordert zu werden. Wer meint, nichts zu schulden, der leistet eben nicht und trägt das Risiko, verklagt zu werden. Erst im gerichtlichen Verfahren greift dann wieder der Staat mit seinem Kostenerstattungsanspruch ein und korrigiert das Risiko.

Ob eine Pandemie zu den Gefahren gehört, die ohne staatliches Eingreifen hinzunehmen sind, kann man diskutieren; der Begriff des allgemeinen Lebensrisikos hilft einem dabei aber wenig.


Freiheit


Es bleibt die Frage, was der Staat regeln darf oder gar muss, inwieweit er ein Grundrecht durch einfaches Gesetz einschränken darf oder gar muss. Durch Lockdown und Ausgangssperre ist vorrangig Art. 2 GG betroffen und so landen wir wieder beim Freiheitsbegriff. 

Die Skeptiker der Regelungen zur Pandemiebekämpfung fühlen sich durch Lockdown oder Ausgangssperre in ihrer Freiheit eingeschränkt. Das klingt auf den ersten Blick nachvollziehbar, schaut man es sich genauer an, ändert sich das Bild.

Denn Freiheit im Sinne des demokratischen Rechtsstaates ist nicht die Freiheit, alles tun zu dürfen, worauf man gerade Lust hat. Freiheit im Sinne des demokratischen Rechtstaates ist nicht die Freiheit, mit dem Porsche ungebremst durch die Einkaufszone zu brausen oder bei Pandemie keine Maske zu tragen. Diese Freiheit ist keine Freiheit, sondern Willkür. 

Die Freiheit, die das Grundgesetz meint, ist die Freiheit, die durch seine Regeln erst entsteht, die Freiheit, die ich dadurch erlange, dass ich einigermaßen sicher davon ausgehen darf, dass andere gerade nicht mit dem Porsche durch die Einkaufszone brettern. Das Verbot hingegen, mit dem Porsche durch Einkaufszonen zu brettern, ist keine Einschränkung von Freiheit, sondern Garantie von Freiheit. Man darf die Freiheit eben nicht immer nur auf sich selbst beziehen, man muss sie im gesellschaftlichen Zusammenhang sehen.

Dieser Freiheitsbegriff stammt übrigens - natürlich - nicht von mir. Er stammt von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Mehr zum Freiheitsbegriff von Hegel gibt es in diesem Interview des DLF mit Klaus Vieweg.


Montag, 26. April 2021

Erbunwürdig - eine tatortkritik


 "Was wir erben", heißt die jüngste Folge der Reihe "Tatort" und verdient eine Würdigung. Jetzt reicht's - könnte man auch sagen. Und da die Kollegin Braun gerade nicht im Dienst ist, melde ich mich hier zu Wort.


Vorbemerkung


Mit Juristen eine Folge "tatort" zu schauen ist keine Freude, ich weiß. Das muss etwa so sein, wie mit Medizinern eine Folge "Grey's Anatomy" zu gucken, denke ich. Aber ich sehe diesen Filmchen mittlerweile wirklich eine Menge nach. Ich habe eingesehen, dass ein guter Plot eine Menge dramaturgische Verkürzungen benötigt und auch verträgt. Ich habe mich von engstirnigen juristischen Pingeligkeiten gelöst und gelernt, großzügig über vieles hinweg zu schauen. Aber. 

Ich versuche mal eine Strukturierung: Es gibt dramaturgische Verkürzungen, die sind weitgehend unschädlich, wenn sie der Story dienen. Wenn die gesamte Polizeiarbeit im "tatort" von zwei "Kommissare" genannten Beamten geführt wird, dient das der Übersichtlichkeit und Identifikation. Wenn die verantwortliche Vernehmung noch am selben Tag wie die Tat geschieht, dann dient das der Straffung der Handlung. Es ist verzeihlich, dass all das nicht der Realität entspricht. Wenn ein Beamtenpärchen in Zivil neunzig Minuten lang wie die Zeugen Jehovas an Türen klingelt, um Leute zu befragen, kommen wir allerdings schon in den Bereich dramaturgischer Gestaltung, deren Notwendigkeit sich mir nicht unbedingt erschließt. Und wenn ich einen "tatort" schreibe, der unüberhörbar vom "Erben" handelt, wären zumindest Grundkenntnisse vom Erbrecht wünschenswert. Hier ruht das eigentliche Desaster dieses Filmes, aber dazu später.

Dramaturgische Verkürzungen, unschädliche


Wollte man Polizeiarbeit realistisch abbilden, es wäre schrecklich langweilig. Viele Beamte sitzen in einem trostlosen Büro, die meiste Zeit besteht aus Warten und wenig telegenen Tätigkeiten wie Ablage oder Dienstbesprechungen. Aus dieser Langeweile dann einen trotzdem sehenswerten Film zu machen, ist große Kunst. Einige vorwiegend amerikanische Serien haben das versucht ("Hill Street Blues"), hierzulande hat sich das Konzept nie durchgesetzt. Aber muss ja auch nicht sein.

Es ist völlig in Ordnung, wenn man die Polizeiarbeit auf zwei Personen verdichtet. Dies ermöglicht dem Zuschauer die Identifikation mit den Hauptfiguren. Obwohl ich mich manchmal frage, warum deutsche Krimis praktisch immer aus der Sicht der Ermittler geschildert werden, und so die Identifikation des Zuschauers mit der Staatsmacht voraussetzen. Da könnte man soziologisch einiges hineindeuten, aber das wollen wir hier mal nicht tun.

Auch, dass die für die polizeiliche Ermittlungstätigkeit geltenden Regeln der Prozessordnung keine Rolle spielen: geschenkt. Die Ermittler ("Kommissare") laufen herum und befragen Leute, ohne jemals jemanden zu belehren oder auch nur klarzustellen, ob es sich um Zeugen oder Beschuldigte handelt. Für die Story ist das nicht wichtig, ich weiß. Obwohl ich mich manchmal noch bei der Frage ertappe, wie wohl all diese in feudal wirkenden Wohnzimmern der Tatverdächtigen geführten Vernehmungen später zur Akte gelangen. Setzen sich die Beamten da abends(?) hin und schreiben Erinnerungsvermerke?

Auch scheint in der Welt des "tatort" ein anderes Raum-Zeit-Kontinuum zu herrschen: In diesem "tatort" beispielsweise stellt eine Angehörige des Opfers eine "Strafanzeige", von deren Existenz und Inhalt bereits Minuten später alle Ermittler wissen. Möglicherweise gibt es da bei der Polizei eine Wissensverbreitung über morphische Felder, von der wir Zivilisten nichts wissen. In der Realität hätte eine solche Eingabe erst einmal ein Aktenzeichen erhalten und wäre irgendwohin abverfügt worden, bis dann Wochen später irgendeine Reaktion gefolgt wäre. 

Für die Ermittlungen - und übrigens auch für den Plot - ist diese Strafanzeige völlig überflüssig, womit wir uns der zweiten Kategorie nähern: den unnötigen und ärgerlichen dramaturgischen Verkürzungen.

Unnötige und ärgerliche dramaturgische Verkürzungen


Der "tatort" spielt uns vor, diese "Strafanzeige" wäre von irgendeinem - gar großen - Belang. Tatsächlich ist sie ein Nullum, nimmt in der Handlung keinerlei erhebliche Rolle ein und wird dafür minutenlang völlig überflüssigerweise thematisiert.

Angezeigt wird nach der Wortbedeutung übrigens kein "Täter" - der Jurist würde "Beschuldigter" dazu sagen - den sucht sich die Polizei schon selbst. Angezeigt wird eine Straftat. Die ist in unserem Fall aber längst bekannt, schließlich ermittelt die Polizei ja sogar schon. Was also soll dieses Gerede von der Strafanzeige?

Klassischer Bestandteil jedes deutschen Kriminalfilms ist die unangekündigte Vernehmung der wohlhabenden Beschuldigten in deren Wohnzimmer. Ich verstehe das; es wäre ja langweilig, immer dieselbe graue Wand auf dem Polizeirevier zu zeigen, wo diese Vernehmungen üblicherweise tatsächlich stattfinden. Wenn aber der vernehmende Beamte bockige Vernehmungspersonen routinemäßig damit droht, dann müsse er "Sie eben vorladen", dann ist der Punkt erreicht, an dem ich mich frage, was mir dieser Film eigentlich weismachen will. Den Polizisten stellen den Beteiligten ohne Unterlass in deren Zuhause nach, um sie zu Aussagen zu nötigen; der Normalfall wird dabei zur Drohung. Im aktuellen "tatort" treibt diese Vernehmerei besonders abstruse Blüten: Da wird eine Tatverdächtige(?) von den Beamten aus dem Krankenzimmer ihrer im Sterben liegenden Mutter genötigt ("Sie kommen jetzt mit") und dieses Verhalten als "normale" Polizeiarbeit verkauft. Da wundert es auch niemanden mehr, wenn eine Masse der Bürger es für völlig normal hält, wenn Beamte in der Realität Beschuldigten mit Folter drohen. 

Natürlich kann so etwas auch in der Realität gleichwohl vorkommen und kommt leider auch vor. Wenn man es dann zeigt, würde man erwarten, dass der Film es als strafrechtlich relevantes Fehlverhalten der Beamten thematisiert. Das tut er aber mit keinem Wort, und so kommt man sich etwas vor wie im Propagandavideo einer totalitären Polizeigewerkschaft.

Kriminologisch finde ich das hochbedenklich, weil die Darstellungsweise in Filmen bei den meisten Menschen die Vorstellung von der Realität weit mehr prägt als die Realität selbst. Die meisten Menschen werden nämlich gar nicht so oft von der Polizei vernommen. Sollte es dann aber doch irgendwann einmal soweit sein, können sie die Situation nicht einordnen, weil sie soviel Schrott im "tatort" gesehen haben. Allerdings: Immerhin gab es in diesem "tatort" einen Straftverteidiger, der die zwischenzeitliche Beschuldigte zur Vernehmung begleiten und sogar einen Satz sagen durfte. Das ist in dieser Form zwar auch völlig am Normalfall vorbei, aber da wollen wir mal wieder Nachsicht walten lassen. Es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel das Folgende. 

Quatschjura als Inhalt


Diese "tatort"-Folge beschäftigte sich mit dem "Erben", und das ist eigentlich ein Ansatz, der viele dramaturgische Möglichkeiten bietet. "Erben" hat nicht nur eine rechtliche Komponente, sondern birgt auch Ansatzmöglichkeiten für allerlei soziale und Gerechtigkeitsdiskussionen.

Gerüst der Story ist, dass eine Person ("Elena") von außen durch Heirat in die Unternehmerfamilie eindringt, und dadurch das Familien- und Erbgefüge der Beteiligten verschiebt. Zudem ist es eine gleichgeschlechtliche Ehe, die Einheiratende war zuvor Pflegeperson ihrer Gemahlin und hinter allem steht ein Zwangsarbeiterdrama aus der NS-Zeit. Das wäre Stoff für mindestens drei Dramen, der "tatort" lässt alle drei irgendwann links liegen und leistet sich einen absurden Plottwist:

Die von allen des Mordes aus Habgier (Krimideutsch: "Erbschleicherei") verdächtigte ehemalige "Gesellschafterin" Elena kommt ihrerseits ums Leben, und der "Kommissar" weiß sogleich warum: Sie sei zwar durch die Heirat mit dem Opfer erbberechtigt geworden, habe aber ihren Pflichtteil noch nicht geltend gemacht, weshalb durch ihren Tod alles wieder an die Familie zurückfalle. Daran ist juristisch fast alles falsch und man fragt sich: Warum macht der Drehbuchautor etwas zum Thema seines Drehbuches, von dem er ersichtlich keinerlei Ahnung hat? Muss ich bei dieser Qualität der Recherche damit rechnen, dass gleich ein Dinosaurier aus dem Meer steigt oder die Polizei auf Säbelzahntigern Streife reitet?

Das entstehende Erbrecht ("Erbe") ist etwas anderes als der Pflichtteilsanspruch; das Erbrecht entsteht mit dem Tode des Erblassers ("Opfer") beim (gesetzlichen oder testamentarischen) Erben; der Pflichtteilsanspruch entsteht als Anspruch gegen die Erben dann, wenn ein gesetzlich Erbberechtigter von der Erbfolge durch Testament ausgeschlossen ("enterbt") wurde. Vor allem aber ist das Erbrecht seinerseits vererbbar, selbst der - im Film völlig anlasslos zum Thema gemachte - Pflichtteilsanspruch wäre vererbbar und würde keinesfalls beim Tod der Berechtigten an "die Familie" zurückfallen. Für diese Art des vorgeblichen Rechtswissens hat sich in der Juristenblase auf Twitter der Hashtag #Quatschjura etabliert. 

Die gesamte Handlung wird im Film um diese Unsinnskonstruktionen herum konstruiert und ich frage mich: Wäre es nicht einfacher gewesen, einmal "Erbrecht" zu googeln als sich sein eigenes privates Erbrecht extra für diese Episode des "tatort" auszudenken? 

So bleibt dieser "tatort" als Tiefpunkt dieser Reihe wahrscheinlich für immer in meinem Gedächtnis. Auch ein Renommee.