Was aber ist Faschismus? Was meine ich, wenn ich"Nazi" sage?
Das Entstehen faschistischer Regime ist von bestimmten Voraussetzungen abhängig. Eine der Voraussetzungen wirkt vielleicht etwas überraschend: Es ist die Demokratie. Faschismus stürzt keinen Diktator und beendet keine Monarchie. Faschismus wird vom Volk gewählt. Zwar ist das fünfte Merkmal bei Umberto Ecos Merkmalen des Ur-Faschismus die "Ablehnung von Meinungsvielfalt und Pluralismus". Bisher aber hat der Faschismus Meinungsvielfalt und Pluralismus immer erst einmal genutzt, um überhaupt erst einmal an die Macht zu gelangen. Dann freilich war es mit Meinungsfreiheit und Pluralismus im angemaßten Namen des Volkes vorbei. Aber außer der eigenen Macht hat Faschismus keine Vision, nach Erlangung der Macht folgt irgendwann der Zusammenbruch. Bis dahin herrscht Terror und Gewalt.
Faschistische Bewegungen hatten immer nur ein Ziel, nämlich die Regierung zu delegitimieren und selbst die Macht zu ergreifen. Dazu wenden Faschisten bestimmte Techniken an, die der Idee des demokratischen Rechtsstaates diametral entgegenstehen. Hier setzt ein tragisches Missverständnis an, dem insbesondere Menschen unterliegen, die sich selbst als Konservative empfinden. Dazu unten mehr.
Man kann man sagen: Faschismus spricht gezielt die niederen Instinkte der Menschen an, nicht die Vernunft. Faschismus erklärt nicht und läuft daher auch nicht in Gefahr, von den Menschen nicht verstanden zu werden - Faschismus
- vermittelt den Wählern ein simples Weltbild,
- stärkt ihr Selbstwertgefühl und
- erlaubt ihnen, ihren Impulsen freien Lauf zu lassen.
Simples Weltbild
Das simple Weltbild ist meist binär codiert und besteht aus der variierenden Behauptung, dass einige Menschen von Natur aus besser wären als andere und daher mehr Rechte als diese hätten. Das bedeutet in der Praxis immer auch, dass die einen über die anderen herrschen. Bei Umberto Eco taucht dies als "Elitedenken" unter Ordnungsziffer 10 auf. Jeder Mensch kann dabei ganz einfach zur Elite gehören, indem er sich denen anschließt, die behaupten, die Elite zu sein. Faschismus ist so einfach!
Da es häufig nur arme Schlucker sind, die sich da als Elite empfinden, taugen objektivierbare Kriterien schwer zur Abgrenzung. Sicherer ist, man lehnt sich an Eigenschaften an, die kaum nachprüfbar sind: Herkunft oder Sekundärtugenden. Bei Eco gehören dazu: Traditionenkult (Nr. 1), Nationalismus (Nr. 7) und Heldentum (Nr. 11). Um "Elite" zu sein, muss man nichts können, zur "Elite" kann man sich ganz einfach selbst ernennen. "Elite" kann man sich auch empfinden, weil man gemeinsam auf irgendeine Schule gegangen ist, und sei die auch noch so schlecht gewesen. Eigentlich reicht jede beliebige Gemeinsamkeit, die einigermaßen zur Abgrenzung taugt. Hauptsache, man selbst fühlt sich geil dabei.
Die eigene Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, vereinigt selbstverständlich alle als "gut" gelesenen Eigenschaften auf sich: Ästhetik, Intelligenz, Heldenmut, Ordnung, Sauberkeit, Pünklichkeit. Und wenn es mit den guten Eigenschaften beim Nazi selbst dann doch nicht so weit her ist, sind nur die bösen Minderheiten daran Schuld, dass er seine gute Eigenschaften nicht zum Ausdruck bringen kann.
Besonders perfide am Faschismus ist dabei, dass der Faschist/Nazi selbst gar nicht an die von ihm vermittelten Weltbild zu glauben braucht. Hauptsache ist, er kann "das Volk" im Sinne dieses Weltbildes manipulieren. Joseph Goebbels konnte als Präsident der Reichskulturkammer den Kunstbegriff der Nationalsozialisten durchsetzen und hat im Privatleben moderne Kunst gesammelt. Dieses Schein-Paradox macht es dann auch praktisch unmöglich, zwischen Nazis und ihren Anhängern zu unterscheiden, denn manchmal sind die Mitläufer mehr Nazi als die Anführer selbst. Wer diese Unterscheidung trotzdem durchhält, leistet damit dem Faschismus selbst Vorschub, indem er dessen Wesen verschleiert und die davon ausgehende Gefahr verharmlost.
Stärkung des Selbstwertgefühls
Die Stärkung des Selbstwertgefühls beruht hauptsächlich auf der Abwertung der anderen; das ist am einfachsten. Die anderen, das sind vorsichtshalber meist Minderheiten, weil die sich schlechter wehren können. Minderheiten sind dumm, pervers oder arbeitsscheu, sie stinken, klauen und wollen Böses. Man merkt das gleich daran, dass die irgendwie anders sind als man selbst. Die gucken schon so komisch, sehen anders aus und machen seltsame Sachen.
Zusätzlich muss man sich noch irgendeine volksselige Heldensaga über sich selbst und die eigene In-Group ausdenken: Arier, groß, blond, stark, ewig treu, Herzschmerz und Heldenmut, Lorbeerkranz und Siegessäule, im Drachenblut gebadet und von Gottes Gnaden gestählt, so oder ähnlich.
Gleichzeitig - ganz wichtig - darf man zur eigenen Absicherung aber auch den Opfermythos nicht vergessen. Damit der dumme Mitläufer seine Wut auf die Minderheiten nicht so schnell aufgibt, wenn die Glückseligkeit bei ihm trotz allem nicht umgehend einkehrt. So wurde der hochwohlgeborene Held vom heimtückischen Feind hinterrücks gefällt, von der Masse der Parasiten nach heroischem Kampf ganz knapp in die Knie gezwungen: Lindenblatt auf der Schulter, Dolchstoß von hinten.
Niedere Instinkte
Damit die eigene Heldensaga auch wirklich funktioniert, muss man die eigenen Anhänger dann noch von der mühsam angeeigneten Sozialisation entfremden: Dazu wird jedem, der möchte, offiziell erlaubt, endlich wieder seinen niedersten Instinkten - Pardon: seinem natürlichen Freiheitsdrang - zu folgen. Endlich wieder ohne Scham hassen! Endlich wieder sagen dürfen, was man bisher aus guten Grund nicht sagen durfte! Das ist der totsichere Trick, alle armseligen Loser dauerhaft an sich zu binden: Ihnen ohne Übertragung irgendeiner Verantwortung zu gestatten, die eigenen Impulse nicht mehr kontrollieren zu müssen.
Dabei hilft ein pervertierter Freiheitsbegriff, den wiederum Konservative und Libertäre in den Diskurs hineintragen und dem demokratischen Rechtsstaat sein Grab schaufeln, indem sie Freiheit durch Willkür ersetzen. Denn alles, was in der Gesellschaft verboten oder reguliert ist, ist ja nicht verboten oder reguliert, um den pöbelnden Möchtegern-Helden aus der Vorortsiedlung zu drangsalieren - es ist verboten oder reguliert, weil diese Verhaltensweisen der Gesellschaft als Gesamtheit mehr schaden als nutzen. Man kann es auch gegenseitige Rücksichtnahme nennen. Ersetzt man diese durch den Trieb des Individuums, gehen die Errungenschaften der Gemeinschaft ziemlich schnell verloren. Dort, wo der Wille des einzelnen keinen Regeln mehr weichen muss, herrscht nur noch ein Recht, das keines ist: das Recht des Stärkeren.
Das ist Sozialphilosophie für Dummies, aber für manche scheint selbst das zu hoch. Und damit kommen wir zu denjenigen, die im eigentlichen Sinne zwar keine Faschisten sind, die aber aus missverstandener Toleranz oder Machtgier in Verbindung mit schlichter Dummheit den Faschisten immer wieder die Tür aufhalten: den Konservativen.
Das Missverständnis der Konservativen
Das tragische Missverständnis vieler Konservativer, von dem schon oben die Rede war, ist: Sie glauben ernsthaft, der Faschismus wäre nur einer von vielen Mitbewerbern im demokratischen Rechtsstaat. Das ist falsch, und für die Erklärung braucht man noch nicht einmal das Toleranz-Paradoxon von Karl Popper.
Der Faschismus ist mit den Grundwerten des demokratischen Rechtsstaates nicht vereinbar. Er ist ein Feind von außen. Den Faschismus in der Demokratie zu verorten, ist etwa so, als würde man den Wolf zu den Schafen zählen und ihm einen Platz in der Herde anbieten. Macht man das, wird der Wolf die Schafe auffressen.
Trotzdem glauben seit hundert Jahren in besonderem Maße konservative und libertäre Menschen, so ein bisschen Faschismus könnte doch nicht schaden. Sie denken das wahrscheinlich, weil sie vom Zeitgeist überfordert sind und meinen, mit so einem bisschen Nazi könnte man die liberalen Kräfte ganz gut in Schach halten, also aus eingebildetem Eigennutz. Gerade bei der CDU macht die Mehrzahl ihrer Mitglieder diesen Fehler immer wieder und erweckt derzeit den Eindruck, dass sie es wirklich nie lernen werden. Denn funktioniert hat das in der langen Geschichte des Faschismus kein einziges Mal. Was passiert, wenn man Nazis oder auch nur ihren Mitläufern, freiwillig zu der Macht verhilft, nach der sie trachten, hat die Geschichte wirklich oft genug gezeigt. Die Beispiele der jüngeren Zeit finden sich bei Levitsky/Ziblatt in ihrem Buch "Wie Demokratien sterben".
Wer nach alldem immer noch glaubt, er müsste Nazis die Tür aufhalten, den betrachte ich selbst als Nazi. Vielleicht ist er Nazi nicht aus Überzeugung, sondern aus intellektueller Beschränktheit, aber das ist der Geschichte egal.