Mittwoch, 27. Juni 2012

Das sechste Beweismittel


Zwei Männer prügeln sich. Vielleicht. Denn während der eine hinterher behauptet, er wäre übel verhauen worden und auf Schmerzensgeld klagt , bestreitet der andere die körperliche Auseinandersetzung .

Vor dem Gericht gibt das eine Situation, die im Volksmund "Aussage gegen Aussage" heißt und prozessual zu einem "non liquet" führen sollte - zu einem Patt, das mit der Abweisung der Schmerzensgeldklage einhergeht.

Nicht so beim Landgericht Hamburg. Dort hatte man beide Streithähne geladen, aber nur das mutmaßliche Opfer war erschienen und hatte tränenreich sein Leid geschildert. Der mutmaßliche Täter hatte sich entsprechend bevollmächtigt von mir vertreten lassen. Und dann kam die Überraschung:


Das Landgericht hat der Klage stattgegeben - ohne ein einziges Beweismittel für den Vortrag des Klägers zu haben. Zur Begründung führt das Landgericht aus, dass es sich auf die informelle Anhörung des Klägers gestützt habe. Nun hat jeder Jurist im Studium gelernt, dass die Anzahl der Beweismittel eine streng begrenzte ist: Sachverständiger - Augenschein - Parteivernehmung - Urkunde - Zeuge, gerne auch mit SAPUZ akronymisiert. Die Anhörung gehört nicht dazu.

Das Landgericht Hamburg stützt sich bei seiner hanebüchenen Rechtsauffassung auf eine Entscheidung des BGH (für die Kenner: BGHZ 82, 13, 20) und setzt sich damit mal eben über die gesamte Beweissystematik der Prozessordnung (§ 286 ZPO) hinweg. Da überrascht es dann auch nicht mehr, dass in der zitierten Entscheidung des BGH (natürlich) etwas ganz anderes drinsteht.


Rechtsmittel: Fehlanzeige. Landgericht Hamburg, mir graut vor Dir!

19 Kommentare:

  1. Können Sie die entscheidenden Passagen des Urteils oder gar den Volltext des Urteils mitteilen? Dann könnte man sich ein eigenes Bild machen, inwieweit Ihre Kritik gerechtfertigt ist.

    AntwortenLöschen
  2. “Allerdings kann im Fall der Beweisnot einer Partei eine Parteivernehmung nach § 448 ZPO oder eine Anhörung der Partei nach § 141 ZPO notwendig sein. Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit, der Anspruch auf rechtliches Gehör sowie das Recht auf Gewährleistung eines fairen Prozesses und eines wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 103 I GG, Art. 2 I i.V. mit Art. 20 III GG und Art. 6 I EMRK) erfordern, dass einer in Beweisnot befindlichen Partei, die keinen Zeugen hat, Gelegenheit gegeben wird, ihre Darstellung in den Prozess persönlich einzubringen; zu diesem Zweck ist die Partei gem. § 448 ZPO zu vernehmen oder gem. § 141 ZPO persönlich anzuhören (BGH, NJW 1998, 306; NJW 1999, 363 [364]; NJW-RR 2003, 1002 [1003]; BGH NJW 2003, 3636; BGH, BeckRS 2004, 9779; NJW-RR 2006, 61 [63]; BGH, NJW-RR 2007, 1690 [1691] Rdnr. 10; BGH NJW-RR 2008, 1086 [1087] Rdnr. 13; BGH, NJW 2010, 3292 Rdnr. 16; BVerfG, NJW 2001, 2531; NJW 2008, 2170; EGMR, NJW 1995, 1413).”

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. @Gast: Das trifft es genau genommen allerdings nicht, trotz der vielen Fundstellen. Greift man zum Mittel der Parteivernehmung oder Anhörung, dann ist das ultima ratio. D.h.: Dem Gegner muss dieselbe Möglichkeit eingeräumt werden, sonst ist sein rechtliches Gehör verletzt. Herr Kollege Nebgen schildert übrigens weder eine Parteivernehmung noch eine Anhörung. Der Gegner wurde nur informatorisch befragt. Als Verurteilungsgrundlage nicht geeignet.

      Löschen
    2. In der Tat, dass Gericht muss in einem solchen Fall das persönliche Erscheinen beider Parteien angeordnet haben und so auch dem Gegner die Möglichkeit (!) einer persönlichen Anhörung eingeräumt haben.

      Wenn der Gegner dann allerdings von einem Strafverteidiger (!) vertreten wird, der seinem Mandanten gesagt hat, er brauche nicht zu erscheinen, da ihm wegen der Beweisnot des Klägers nichts passieren könne, steht einer Verwertung allein der Aussage des Kl. auch nichts entgegen.

      Wie Sie darauf kommen, dass hier keine "Anhörung" zu Beweiszwecken, sondern nur eine informatorische Befragung stattgefunden haben soll, erschließt sich mir nicht.

      Löschen
    3. Es besteht durchaus die Gefahr, dass wir über zwei verschiedene Fälle sprechen, ich über den, der von Herrn Nebgen geschildert wurde, Sie von Ihrer selbst gebildeten Fallvariante. Jedenfalls: (1) Auch Strafverteidiger sind Rechtsanwälte, (2) Von einer Anordnung des persönlichen Erscheinens schreibt Herr Nebgen nichts. Selbst dann gälte der Grundsatz der Waffengleichheit. Die Befragung des Gegeners müsste in einem neuen Termin mit entsprechendem Hinweis nachgeholt werden, (3) - Herr Nebgen schreibt "informelle Anhörung", also weder § 141 noch § 448 ZPO. Beide sind nicht "informell", sondern förmlich.

      Löschen
  3. Wieso kein Rechtsmittel?

    "Ihre" BGH-Entscheidung sagt:

    "Das Berufungsgericht wird von der dargestellten sachlichen Rechtslage auszugehen und sich zunächst des Vortrags des Klägers anzunehmen haben. Es wird dabei, falls die Schlüssigkeit herbeigeführt werden kann, zu beachten haben, daß es dem Richter zwar grundsätzlich erlaubt ist, allein aufgrund des Vortrags der Parteien und ohne Beweiserhebung festzustellen, was für wahr und was für nicht wahr zu erachten ist (§ 286 ZPO ), daß ein solches Verfahren, wenn beide Parteien Beweis angeboten haben, aber nur in Ausnahmefällen und nur dann angewandt werden darf, wenn der vorgetragene Sachverhalt beider Parteien klar, widerspruchsfrei und überzeugend ist. Der bisherige Sachstand eignete sich dafür jedenfalls nicht."

    Das dürfte Ihnen ganz gute Aussichten einräumen, oder? Außerdem ist das Urteil uralt. Das BVerfG hat die Anforderungen an die Berücksichtigung von Parteivorbringen seither höher gesetzt (25.10.2002, 1 BvR 2116/01). Irgendwie klingt Ihr Fall also nach Fehlurteil...

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. BVerfG 1 BvR 2116/01 hat mit der vorliegenden Konstellation nichts zu tun.

      Die neuere Rspr. zur Parteianhörung bei Beweisnot ist vom BVerfG nicht nur gebilligt worden, sondern geradezu aus verfassungsrechtlichen Gründen notwendig (EGMR, NJW 1995, 1413).

      Löschen
    2. @Gast: Da sollte man doch noch mal kritisch nachlesen, bevor man so etwas schreibt. "Nichts zu tun" bei einer identischen Rechtsfrage ist ein wenig - dünn. Dass der EGMR 1995 die gegenüber dem BVerfG von 2002 "neuere" Rechtsprechung hatte, darf ich eigenwillig finden? Danke!

      Löschen
    3. In 1 BvR 2116/01 (= NJW 2003, 1655) ging es um einen Gehörsverstoß durch das Übergehen eines Beweisantrags - was das mit der vorliegenden Konstellation zu tun hat, bleibt Ihr Geheimnis.

      Die durch EGMR, NJW 1995, 1413 eingeleitete Änderung der deutschen Rspr. zu den Zweipersonenkonstellationen ist längst durch das BVerfG abgesegnet (BVerfG, NJW 2001, 2531).

      Als Arbeitsrechtler sollten Sie im Übrigen BAGE 122, 347 = NJW 2007, 2427; BAG NJW 2009, 1019 kennen - die machen das bekanntlich genauso wie der BGH.

      Löschen
  4. Da hat sich ja eine stattliche Diskussion entwickelt. Für die Zweifler: An den schon etwas länger zurückliegenden Fall aus meiner Praxis fühlte ich mich erinnert anlässlich eines Aufsatzes von Ralf Eschenbach ZAP 2012, Heft 7, Fach 22, Seite 369 - 374. Dort wird insbesondere auch das BGH-Urteil untersucht.

    Das hier wiederzugeben, würde den Rahmen sprengen. Wen der Aufsatz ernsthaft interessiert, möge mir eine E-Mail schicken, dann schicke ich gerne eine Ablichtung. Selbstverständlich nur zur rein privaten Nutzung.

    Eins aber dürfte auch so klar sein, nämlich dass Gerichte sich nicht einfach neue Beweismittel zusammenschustern dürfen, die die ZPO nicht vorsieht.

    AntwortenLöschen
  5. Doch, genau darauf läuft die längst gefestigte Rechtsprechung der Zivilsenate des BGH hinaus, ob das dem Strafrichter Eschelbach (mit "l") oder Ihnen nun gefällt oder nicht.

    AntwortenLöschen
  6. Fall: zwei junge Männer prügeln sich einvernehmlich. einer gewinnt, einer verliert die Prügelei. Der Hergang ist streitig, sodass das Strafverfahren Einstellung fand. Der Gewinner wird von der Krankenkasse des Verlierers aus zediertem Recht in Anspruch genommen. Der Einzelrichter läd 7 Zeugen und macht vor Eintritt in die Beweisaufnahme ein Verhör, pardon eine informatorische Anhörung mit dem Gewinner und sagt dann (vor der Beweisaufnahme): "Also, etweder sie lügen oder Sie decken jemanden oder beides". Befangenheitsantrag. Die Kammer sagt: alles in Ordnung. Zum Folgetermin müsste ich eigentlich gar nicht mehr hinfahren...

    AntwortenLöschen
  7. Dann fahr anstelle zum Folgetermin zu uns Madras essen :)

    AntwortenLöschen
  8. Und warum genau gibt es jetzt kein Rechtsmittel? Berufung? Gehörsrüge? OLG?

    AntwortenLöschen
  9. Hätte ich zu entscheiden gehabt, hätte Ihr Mandant nicht nur verloren, sondern obendrein auch noch ein Ordnungsgeld bezahlen dürfen.

    Und falls das Nichterscheinen ihres Mandanten auf Ihrem Mist gewachsen ist, haben Sie hoffentlich schon Ihre Haftpflichtversicherung informiert, oder?

    Immer wieder erstaunlich, wie Sie im Nachhinein versuchen, die eigene Unzulänglichkeit auf andere zu schieben.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Falls Sie ein Kollege sein sollten, sollten Sie schleunigst etwas Nachhilfe in ZPO nehmen, sonst könnte das mal übel enden. Sollten Sie - was ich mir gar nicht ausmalen möchte - ein Richter sein, fehlen mir die Worte.

      So oder so: Trollen Sie sich!

      Löschen
    2. Vielleicht geben Sie mal einen Kurs "ZPO für Richter und (andere) Trolle"? Ich würd' mich vielleicht anmelden, brauche anscheinend dringend etwas Nachhilfe.

      Löschen
  10. Für mich klingt es eher so, als dass das Gericht das Bestreiten des Beklagten für unerheblich gehalten hat. Selbstverständlich darf das Gericht dem Vortrag des Klägers mehr Glauben schenken als dem Beklagtenvortrag. Verstehe nicht, wo das Problem ist.

    AntwortenLöschen
  11. ZPO für Anfänger:
    LG und kein Rechtsmittel?
    -> Berufungsverfahren
    -> Es gilt 529 ZPO (bitte laut vorlesen)
    -> Nur wenn da Berufungsgericht von der Beweiswürdigung dea AG abweichen will, muss es die Beweisaufnahme wiederholen
    -> viel Luft um nichts (wie immer bei Nebgen)

    AntwortenLöschen