Donnerstag, 29. April 2021

Freiheit und Willkür in Zeiten von COVID19

 Ausgangspunkt


In der Diskussion um den Umgang mit der Pandemie fällt immer wieder auf, dass einige Menschen ein merkwürdiges Verständnis von Freiheit propagieren. Als zufällig gewähltes Beispiel finden Sie hier einen Beitrag meines Rechtsanwaltskollegen Gerhard Strate aus dem "Cicero". 

Zusammengefasst sieht Gerhard Strate in den bei Schriftlegung geplanten, mittlerweile in Kraft getretenen Änderungen des Bundesinfektionsschutzgesetzes durch das 4. Bevölkerungsschutzgesetz (sog. Bundesnotbremse) "totalitäre Bestrebungen", die sich von der "ursprünglichen Bedeutung" der Grundrechte entfernten. Angeblich würden die Grundrechte - insbesondere Art. 2 GG - vom "Abwehrrecht des schutzlosen Individuums gegen die Zumutungen eines übermächtigen Kollektivs" durch Ausgangssperre und Lockdown "zur schnöden Versicherungspolice profanisiert". Nach diesen Maßstäben, so unkt er, müsste man demnächst auch bei Grippewellen(!) Maskenpflicht anordnen, Autos und Fahrräder ebenso verbieten wie Alkohol und Tabak, letztlich gar Haushaltsleitern, Küchenmesser und Strom, weil allesamt in irgendeiner Form Todesopfer fordern. 

Aus dem Text greife ich mal zwei Begriffe heraus, nämlich "Eigenverantwortung" und "Allgemeines Lebensrisiko", bevor ich zur Freiheit zurückkomme.


Eigenverantwortung


Staatliche Regelungen zur Pandemiebekämpfung (er nennt sie "Zwangsmaßnahmen") lehnt Gerhard Strate ab und setzt sie in Gegensatz zur Eigenverantwortung, auf die auch er setzen will. Das ist nicht neu, sondern taucht bei vielen Skeptikern der Corona-Maßnahmen auf. Schauen wir uns also einmal an, was "Eigenverantwortung" eigentlich bedeutet und ob das wirklich im Gegensatz zu staatlichen Regelungen steht. 

"Eigenverantwortung" bedeutet (zitiert nach Wikipedia) "die Bereitschaft und Pflicht, für das eigene Handeln und Unterlassen Verantwortung zu übernehmen". Das dürfte sich auch mit dem Allgemeinverständnis decken. Es heißt, jeder muss im Rahmen der geltenden Gesetze die Konsequenzen seines Tuns tragen - mehr nicht. Wer jemanden erschlägt, muss damit rechnen, wegen Totschlags verurteilt zu werden. Mit Art und Umfang oder gar Berechtigung der jeweiligen Regelung hat das überhaupt nichts zu tun. Man könnte hier in eine Diskussion über den Rechtspositivismus einsteigen, aber das ersparen wir uns mal.

Im Zusammenhang mit COVID19 soll mit dem Ruf nach mehr Eigenverantwortung offenbar ein Weniger an Regelungen gefordert werden. Das ist nach dem zitierten Wortsinn ein Widerspruch in sich: Ein weniger an Regelungen würde nämlich auch zu einem weniger an Eigenverantwortung führen: Menschen müssten für manche Schäden, die sie anrichten, nicht mehr haften. Das kann niemand wollen, würde es doch den Rechtsstaat und das Vertrauen in ihn destabilisieren. 

"Eigenverantwortung" erweist sich so als gefährliche Nebelkerze.


Allgemeines Lebensrisiko


Das allgemeine Lebensrisiko, von Gerhard Strate zum Prinzip erhoben, bezeichnet zunächst einmal alle Gefahren, die das Leben so mit sich bringt. Auf einige davon reagiert der Staat, auf andere nicht. Das hängt davon ab, wie groß der Staat die Gefahr einschätzt und wie die Abwägung der Rechtsgüter ausfällt. 

Nach aller Gesetzgebung bleiben einige Gefahren übrig, die man erdulden muss, ohne dass der Staat einen vor ihnen beschützt. Die Gefahr, bei Regen nass zu werden, ist so eine Gefahr, oder die Gefahr, dass einem nach übermäßigem Nahrungsgenuss irgendwann die Hose nicht mehr passt. Tatsächlich hat der BGH das mal für die Gefahr, in ein Strafverfahren verwickelt zu werden, entschieden. Zivilrechtliches Äquivalent ist die Gefahr, von anderen zu privatrechlichen Leistungen aufgefordert zu werden. Wer meint, nichts zu schulden, der leistet eben nicht und trägt das Risiko, verklagt zu werden. Erst im gerichtlichen Verfahren greift dann wieder der Staat mit seinem Kostenerstattungsanspruch ein und korrigiert das Risiko.

Ob eine Pandemie zu den Gefahren gehört, die ohne staatliches Eingreifen hinzunehmen sind, kann man diskutieren; der Begriff des allgemeinen Lebensrisikos hilft einem dabei aber wenig.


Freiheit


Es bleibt die Frage, was der Staat regeln darf oder gar muss, inwieweit er ein Grundrecht durch einfaches Gesetz einschränken darf oder gar muss. Durch Lockdown und Ausgangssperre ist vorrangig Art. 2 GG betroffen und so landen wir wieder beim Freiheitsbegriff. 

Die Skeptiker der Regelungen zur Pandemiebekämpfung fühlen sich durch Lockdown oder Ausgangssperre in ihrer Freiheit eingeschränkt. Das klingt auf den ersten Blick nachvollziehbar, schaut man es sich genauer an, ändert sich das Bild.

Denn Freiheit im Sinne des demokratischen Rechtsstaates ist nicht die Freiheit, alles tun zu dürfen, worauf man gerade Lust hat. Freiheit im Sinne des demokratischen Rechtstaates ist nicht die Freiheit, mit dem Porsche ungebremst durch die Einkaufszone zu brausen oder bei Pandemie keine Maske zu tragen. Diese Freiheit ist keine Freiheit, sondern Willkür. 

Die Freiheit, die das Grundgesetz meint, ist die Freiheit, die durch seine Regeln erst entsteht, die Freiheit, die ich dadurch erlange, dass ich einigermaßen sicher davon ausgehen darf, dass andere gerade nicht mit dem Porsche durch die Einkaufszone brettern. Das Verbot hingegen, mit dem Porsche durch Einkaufszonen zu brettern, ist keine Einschränkung von Freiheit, sondern Garantie von Freiheit. Man darf die Freiheit eben nicht immer nur auf sich selbst beziehen, man muss sie im gesellschaftlichen Zusammenhang sehen.

Dieser Freiheitsbegriff stammt übrigens - natürlich - nicht von mir. Er stammt von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Mehr zum Freiheitsbegriff von Hegel gibt es in diesem Interview des DLF mit Klaus Vieweg.


Montag, 26. April 2021

Erbunwürdig - eine tatortkritik


 "Was wir erben", heißt die jüngste Folge der Reihe "Tatort" und verdient eine Würdigung. Jetzt reicht's - könnte man auch sagen. Und da die Kollegin Braun gerade nicht im Dienst ist, melde ich mich hier zu Wort.


Vorbemerkung


Mit Juristen eine Folge "tatort" zu schauen ist keine Freude, ich weiß. Das muss etwa so sein, wie mit Medizinern eine Folge "Grey's Anatomy" zu gucken, denke ich. Aber ich sehe diesen Filmchen mittlerweile wirklich eine Menge nach. Ich habe eingesehen, dass ein guter Plot eine Menge dramaturgische Verkürzungen benötigt und auch verträgt. Ich habe mich von engstirnigen juristischen Pingeligkeiten gelöst und gelernt, großzügig über vieles hinweg zu schauen. Aber. 

Ich versuche mal eine Strukturierung: Es gibt dramaturgische Verkürzungen, die sind weitgehend unschädlich, wenn sie der Story dienen. Wenn die gesamte Polizeiarbeit im "tatort" von zwei "Kommissare" genannten Beamten geführt wird, dient das der Übersichtlichkeit und Identifikation. Wenn die verantwortliche Vernehmung noch am selben Tag wie die Tat geschieht, dann dient das der Straffung der Handlung. Es ist verzeihlich, dass all das nicht der Realität entspricht. Wenn ein Beamtenpärchen in Zivil neunzig Minuten lang wie die Zeugen Jehovas an Türen klingelt, um Leute zu befragen, kommen wir allerdings schon in den Bereich dramaturgischer Gestaltung, deren Notwendigkeit sich mir nicht unbedingt erschließt. Und wenn ich einen "tatort" schreibe, der unüberhörbar vom "Erben" handelt, wären zumindest Grundkenntnisse vom Erbrecht wünschenswert. Hier ruht das eigentliche Desaster dieses Filmes, aber dazu später.

Dramaturgische Verkürzungen, unschädliche


Wollte man Polizeiarbeit realistisch abbilden, es wäre schrecklich langweilig. Viele Beamte sitzen in einem trostlosen Büro, die meiste Zeit besteht aus Warten und wenig telegenen Tätigkeiten wie Ablage oder Dienstbesprechungen. Aus dieser Langeweile dann einen trotzdem sehenswerten Film zu machen, ist große Kunst. Einige vorwiegend amerikanische Serien haben das versucht ("Hill Street Blues"), hierzulande hat sich das Konzept nie durchgesetzt. Aber muss ja auch nicht sein.

Es ist völlig in Ordnung, wenn man die Polizeiarbeit auf zwei Personen verdichtet. Dies ermöglicht dem Zuschauer die Identifikation mit den Hauptfiguren. Obwohl ich mich manchmal frage, warum deutsche Krimis praktisch immer aus der Sicht der Ermittler geschildert werden, und so die Identifikation des Zuschauers mit der Staatsmacht voraussetzen. Da könnte man soziologisch einiges hineindeuten, aber das wollen wir hier mal nicht tun.

Auch, dass die für die polizeiliche Ermittlungstätigkeit geltenden Regeln der Prozessordnung keine Rolle spielen: geschenkt. Die Ermittler ("Kommissare") laufen herum und befragen Leute, ohne jemals jemanden zu belehren oder auch nur klarzustellen, ob es sich um Zeugen oder Beschuldigte handelt. Für die Story ist das nicht wichtig, ich weiß. Obwohl ich mich manchmal noch bei der Frage ertappe, wie wohl all diese in feudal wirkenden Wohnzimmern der Tatverdächtigen geführten Vernehmungen später zur Akte gelangen. Setzen sich die Beamten da abends(?) hin und schreiben Erinnerungsvermerke?

Auch scheint in der Welt des "tatort" ein anderes Raum-Zeit-Kontinuum zu herrschen: In diesem "tatort" beispielsweise stellt eine Angehörige des Opfers eine "Strafanzeige", von deren Existenz und Inhalt bereits Minuten später alle Ermittler wissen. Möglicherweise gibt es da bei der Polizei eine Wissensverbreitung über morphische Felder, von der wir Zivilisten nichts wissen. In der Realität hätte eine solche Eingabe erst einmal ein Aktenzeichen erhalten und wäre irgendwohin abverfügt worden, bis dann Wochen später irgendeine Reaktion gefolgt wäre. 

Für die Ermittlungen - und übrigens auch für den Plot - ist diese Strafanzeige völlig überflüssig, womit wir uns der zweiten Kategorie nähern: den unnötigen und ärgerlichen dramaturgischen Verkürzungen.

Unnötige und ärgerliche dramaturgische Verkürzungen


Der "tatort" spielt uns vor, diese "Strafanzeige" wäre von irgendeinem - gar großen - Belang. Tatsächlich ist sie ein Nullum, nimmt in der Handlung keinerlei erhebliche Rolle ein und wird dafür minutenlang völlig überflüssigerweise thematisiert.

Angezeigt wird nach der Wortbedeutung übrigens kein "Täter" - der Jurist würde "Beschuldigter" dazu sagen - den sucht sich die Polizei schon selbst. Angezeigt wird eine Straftat. Die ist in unserem Fall aber längst bekannt, schließlich ermittelt die Polizei ja sogar schon. Was also soll dieses Gerede von der Strafanzeige?

Klassischer Bestandteil jedes deutschen Kriminalfilms ist die unangekündigte Vernehmung der wohlhabenden Beschuldigten in deren Wohnzimmer. Ich verstehe das; es wäre ja langweilig, immer dieselbe graue Wand auf dem Polizeirevier zu zeigen, wo diese Vernehmungen üblicherweise tatsächlich stattfinden. Wenn aber der vernehmende Beamte bockige Vernehmungspersonen routinemäßig damit droht, dann müsse er "Sie eben vorladen", dann ist der Punkt erreicht, an dem ich mich frage, was mir dieser Film eigentlich weismachen will. Den Polizisten stellen den Beteiligten ohne Unterlass in deren Zuhause nach, um sie zu Aussagen zu nötigen; der Normalfall wird dabei zur Drohung. Im aktuellen "tatort" treibt diese Vernehmerei besonders abstruse Blüten: Da wird eine Tatverdächtige(?) von den Beamten aus dem Krankenzimmer ihrer im Sterben liegenden Mutter genötigt ("Sie kommen jetzt mit") und dieses Verhalten als "normale" Polizeiarbeit verkauft. Da wundert es auch niemanden mehr, wenn eine Masse der Bürger es für völlig normal hält, wenn Beamte in der Realität Beschuldigten mit Folter drohen. 

Natürlich kann so etwas auch in der Realität gleichwohl vorkommen und kommt leider auch vor. Wenn man es dann zeigt, würde man erwarten, dass der Film es als strafrechtlich relevantes Fehlverhalten der Beamten thematisiert. Das tut er aber mit keinem Wort, und so kommt man sich etwas vor wie im Propagandavideo einer totalitären Polizeigewerkschaft.

Kriminologisch finde ich das hochbedenklich, weil die Darstellungsweise in Filmen bei den meisten Menschen die Vorstellung von der Realität weit mehr prägt als die Realität selbst. Die meisten Menschen werden nämlich gar nicht so oft von der Polizei vernommen. Sollte es dann aber doch irgendwann einmal soweit sein, können sie die Situation nicht einordnen, weil sie soviel Schrott im "tatort" gesehen haben. Allerdings: Immerhin gab es in diesem "tatort" einen Straftverteidiger, der die zwischenzeitliche Beschuldigte zur Vernehmung begleiten und sogar einen Satz sagen durfte. Das ist in dieser Form zwar auch völlig am Normalfall vorbei, aber da wollen wir mal wieder Nachsicht walten lassen. Es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel das Folgende. 

Quatschjura als Inhalt


Diese "tatort"-Folge beschäftigte sich mit dem "Erben", und das ist eigentlich ein Ansatz, der viele dramaturgische Möglichkeiten bietet. "Erben" hat nicht nur eine rechtliche Komponente, sondern birgt auch Ansatzmöglichkeiten für allerlei soziale und Gerechtigkeitsdiskussionen.

Gerüst der Story ist, dass eine Person ("Elena") von außen durch Heirat in die Unternehmerfamilie eindringt, und dadurch das Familien- und Erbgefüge der Beteiligten verschiebt. Zudem ist es eine gleichgeschlechtliche Ehe, die Einheiratende war zuvor Pflegeperson ihrer Gemahlin und hinter allem steht ein Zwangsarbeiterdrama aus der NS-Zeit. Das wäre Stoff für mindestens drei Dramen, der "tatort" lässt alle drei irgendwann links liegen und leistet sich einen absurden Plottwist:

Die von allen des Mordes aus Habgier (Krimideutsch: "Erbschleicherei") verdächtigte ehemalige "Gesellschafterin" Elena kommt ihrerseits ums Leben, und der "Kommissar" weiß sogleich warum: Sie sei zwar durch die Heirat mit dem Opfer erbberechtigt geworden, habe aber ihren Pflichtteil noch nicht geltend gemacht, weshalb durch ihren Tod alles wieder an die Familie zurückfalle. Daran ist juristisch fast alles falsch und man fragt sich: Warum macht der Drehbuchautor etwas zum Thema seines Drehbuches, von dem er ersichtlich keinerlei Ahnung hat? Muss ich bei dieser Qualität der Recherche damit rechnen, dass gleich ein Dinosaurier aus dem Meer steigt oder die Polizei auf Säbelzahntigern Streife reitet?

Das entstehende Erbrecht ("Erbe") ist etwas anderes als der Pflichtteilsanspruch; das Erbrecht entsteht mit dem Tode des Erblassers ("Opfer") beim (gesetzlichen oder testamentarischen) Erben; der Pflichtteilsanspruch entsteht als Anspruch gegen die Erben dann, wenn ein gesetzlich Erbberechtigter von der Erbfolge durch Testament ausgeschlossen ("enterbt") wurde. Vor allem aber ist das Erbrecht seinerseits vererbbar, selbst der - im Film völlig anlasslos zum Thema gemachte - Pflichtteilsanspruch wäre vererbbar und würde keinesfalls beim Tod der Berechtigten an "die Familie" zurückfallen. Für diese Art des vorgeblichen Rechtswissens hat sich in der Juristenblase auf Twitter der Hashtag #Quatschjura etabliert. 

Die gesamte Handlung wird im Film um diese Unsinnskonstruktionen herum konstruiert und ich frage mich: Wäre es nicht einfacher gewesen, einmal "Erbrecht" zu googeln als sich sein eigenes privates Erbrecht extra für diese Episode des "tatort" auszudenken? 

So bleibt dieser "tatort" als Tiefpunkt dieser Reihe wahrscheinlich für immer in meinem Gedächtnis. Auch ein Renommee.