Freitag, 21. Juni 2013

Immer auf die Radfahrer


Wer schuldlos in einen Unfall verwickelt wird, bekommt den ihm dadurch entstandenen Schaden ersetzt. Oder vielleicht doch nicht immer? Das OLG Schleswig war in seinem Urteil vom 5. Juni 2013 - Az. 7 U 11/12 - anderer Meinung. Es hat die Klage eines Fahrradfahrers teilweise abgewiesen, obwohl dieser vollständig unverschuldet in einen Unfall verwickelt gewesen war. Die Richter waren der Auffassung, den Fahrradfahrer treffe ein erhebliches Mitverschulden, weil er keinen Helm aufgehabt habe. Darüber streiten sich jetzt die Gemüter.

In der LTO diskutiert Prof. Dr. Dieter Müller darüber unter dem arg in die Irre führenden Titel "Helmpflicht durch die Hintertür". Auch einige Rechtsanwaltskollegen haben das Thema schon aufgegriffen, z. B. hier oder hier.

Ganz so einfach, wie es sich Prof. Dr. Müller in der LTO macht, ist es allerdings nicht. Der vertritt die Auffassung, nur "wer sich falsch verhält, darf belastet werden" und kommt zu dem Ergebnis, der bloße Umstand, dass "ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung zur Vermeidung eigenen Schadens beim Radfahren einen Helm tragen wird" (Zitat aus dem Urteil des OLG Schleswig), dürfe nicht "in eine juristische Verpflichtung umgedeutet werden". Und das ist so leider falsch.

Die von Prof. Dr. Müller vertretene Meinung hat - aus meiner Sicht - einiges für sich, mit der Rechtsprechung der Obergerichte stimmt sie aber leider nicht überein, und das nicht erst seit dem Urteil des OLG Schleswig. Das sollte man als Laie wissen, als Fachmann hätte man es erörtern müssen. Denn die Rechtslage ist um einiges differenzierter:

Nach § 254 BGB trägt ein Mitverschulden, wer an der Entstehung eines Schadens mitwirkt. Das kann zum einen die Verursachung des Schaden betreffen, die so genannte "haftungsbegründende Kausalität". Verhalten sich beide Verkehrsteilnehmer nicht verkehrsgerecht, haben beide den Unfall mitverursacht. Das Mitverschulden erstreckt sich nicht nur auf die Verursachung, sondern auch auf die Entwicklung eines Schadens; der Jurist bezeichnet das als "haftungsausfüllende Kausalität". Wer z. B. mit seinem Gipsarm Handstand macht, trägt eine Mitverantwortung dafür, wenn der Bruch deshalb langsamer heilt.

Der Helm gehört somit eindeutig in den Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität. Es reicht daher nicht, sich darauf zurückzuziehen, dass der Fahrradfahrer am eigentlichen Unfall keine Schuld gehabt habe.

Nun gibt es unstreitig kein Gesetz, dass Fahrradfahrern vorschriebe, einen Helm zu tragen. Mit diesem Umstand als Argument möchte Prof. Müller jegliches Mitverschulden verneinen; genau darum geht es aber nicht. Denn das Urteil stellt gar nicht auf eine Verpflichtung ab, sondern darauf, dass es eine so genannte "Obliegenheit" wäre, als Fahrradfahrer einen Helm zu tragen. Deshalb ist auch das Wort "Helmpflicht" im Titel so irreführend. Niemand wird verpflichtet, einen Helm zu tragen. War aber ohne Helm einen dadurch begünstigten Schaden erleidet, hat für diesen Schaden teilweise selbst einzustehen. Das ist ein feiner Unterschied, der aber große Auswirkungen haben kann.

Eine Obliegenheit ist eine Verpflichtung gegen sich selbst: etwas, das man nicht tun muss (Pflicht), aber im eigenen Interesse tun sollte. Dass die Verletzung solcher Obliegenheiten - wie sie z. B. im Versicherungsrecht zahlreich vorkommen - ein Mitverschulden im Sinne des § 254 BGB begründen kann, ist in der Rechtsprechung seit langem anerkannt. Da hilft es wenig, anderer Meinung zu sein.

Es fragt sich jetzt nur noch, ob das Tragen eines Helms tatsächlich eine Obliegenheit ist. Nur darum geht es, und gerade darüber habe ich bisher kaum etwas gelesen. Dabei könnte man hier schön argumentieren, z. B. damit, dass dann auch eine entsprechende Obliegenheit ("Helmpflicht") für Autofahrer diskutiert werden müsste. Autofahrer erleiden nämlich bei Unfällen mindestens genauso häufig Kopfverletzungen wie Fahrradfahrer.



Donnerstag, 20. Juni 2013

Sperma unterm Stammtisch


Aus der beliebten Reihe "Recht, einfach gemacht" präsentiert uns heute die auf diesem Sektor bereits hoch profilierte BILD-Zeitung den Beitrag "Darum ließ der Richter den Angeklagten laufen". Der Fall ist wie für die BILD gemacht: Eine Rechtsanwältin (BILD-Jargon: "schöne Anwältin"), die nebenher anscheinend als Call Girl arbeitete, hatte sich offenbar beim Sado-Maso-Sex erhängt.

Das ist zwar ein hochgradig BILD-affiner Sachverhalt, aber eine Straftat ist nicht ohne weiteres zu erkennen. So mag sich die im Titel gestellte Frage dann auch von selbst erklären. Aber die Art und Weise, in der die BILD-Zeitung eine Tragödie präsentiert und dabei den Vorsitzenden Richter vorgeblich wörtlich zitiert - das wirft wieder einmal ein dunkles Lichte unter Deutschlands Stammtische.

Wie immer gilt: Wo die BILD wörtlich zitiert, gehe ich davon aus, dass diese Worte auch genau so gefallen sind. Falls nicht, hätte die BILD falsch zitiert, was wir ihr hier keinesfalls unterstellen möchten.

Los geht es mit dem typischen Geunke, wann immer mal in einem Gerichtssaal die Unschuldsvermutung wider Erwarten dem Verfahren Stand halten konnte: "Das Gericht ... musste den Angeklagten ... freisprechen." Statt offener Freude darüber, dass dieses Mal zumindest niemand zu Unrecht bestraft wurde, klingt hier Trauer durch. Dazu passt auch das despektierliche "laufen lassen" im Titel. Das suggeriert, Richter wären allein dazu da, Leute einzusperren. Nein, lieber Stammtisch, dazu sind Richter nicht da.

Dieser Richter allerdings scheint das von der BILD vermittelte Bedauern auch selbst gespürt zu haben, glaubt man - siehe oben - den Zitaten. So habe der Angeklagte "sehr zum Ärger des Richters" bis zum Ende geschwiegen. Einst steht mal fest: Ein Richter, der sich darüber ärgert, dass Bürger ein verfassungsmäßig verbürgtes Recht wahrnehmen, dürfte seinen Beruf verfehlt haben. Aber das war ja auch noch kein Zitat. Das kommt jetzt:

"Sie hätten uns eine Menge zum Tod von Yvonne G. sagen können", 

soll der Richter gesagt haben.

"Ob sie mit dieser Schuld leben können, müssen Sie selber wissen."

Welche Schuld mag er da gemeint haben? Die Schuld, sein Schweigerecht ausgeübt zu haben? Oder doch die Tatschuld, von der das Gericht ja gar nicht überzeugt war? (Sonst hätte es ja nicht freigesprochen - pardon: frei sprechen müssen.)

Der restliche Beitrag bleibt kryptisch: Angeblich habe das Gericht keine Zweifel gehabt, dass derjenige, dessen DNA-Spuren an der Kleidung des - ACHTUNG - Opfers gefunden worden seien, auch "die Frau an die Tür gehangen" (gemeint wohl: gehängt) habe. Und dann wird es auch orthographisch bunt: Zum Angeklagten soll der Richter gesagt haben:

"Es wahren ihre DNA-Spuren, die ... gefunden wurden."

Warlich, das ist war. Oder wahr es? Warscheinlich egal. Aber wahrum hat das Gericht dann nicht verurteilt, wenn es doch davon überzeugt wahr? Wahs verschweigt uns die BILD-Zeitung?

Ich schließe mit den Worten der BILD selbst:

"Es wird wohl für immer ungeklärt bleiben."



Mittwoch, 19. Juni 2013

Die äußerst traurige Ballade vom sehr kurzen Mandat


Ein zurückhaltend eingerichtetes Anwaltsbüro. Es ist nachmittag. Der Rechtsanwalt empfängt in seinem Besprechungszimmer einen Mandanten.

Mandant (nach Luft ringend): "Herr Rechtsanwalt, Sie müssen mir unbedingt helfen! Es ist dringend! Die Pölzers* haben meinen Hunk* gestohlen und mich bei den Dreeßens* verleugnet. Jetzt habe ich eine Vorladung von der Polizei erhalten, weil ich angeblich eine Erpressung begangen haben soll! Das stimmt doch alles gar nicht, die lügen doch alle! Außerdem brauche ich meinen Hunk* sofort zurück, und zwar noch heute! Und ich will Strafanzeige gegen die erstatten! Das sind Verbrecher, die ganze Stadt weiß das!"

Rechtsanwalt: "Nun mal langsam, eins nach dem anderen. Was ist denn geschehen?"

Mandant: "Das habe ich Ihnen doch eben alles erzählt!"

Rechtsanwalt: "Könnten Sie das bitte noch einmal etwas ausführlicher von Anfang an berichten, damit ich es verstehe? Haben Sie vielleicht irgendwelche Unterlagen dabei?"

Mandant (mit leicht aggressivem Unterton) "Unterlagen?" Was denn für Unterlagen? Das haben die doch alles! Hören Sie mal, ich brauche Ihre Hilfe, es ist dringend!"

Rechtsanwalt: "Da sprechen Sie ein wichtiges Thema an. Wenn ich schnell tätig werden soll, brauche ich natürlich zunächst einen Vorschuss in Höhe von - sagen wir -  eintausend Euro."

Mandant (aufgebracht): "Was?! Sie wollen auch noch Geld von mir?! Ich bin doch das Opfer! Ihr Anwälte denkt auch immer nur ans Geld! Wo soll ich denn so schnell so viel Geld herbekommen?!"

Rechtsanwalt: "Sie werden verstehen, dass ich erst für Sie tätig werden kann, wenn meine Vergütung gesichert ist."

Mandant (noch aufgebrachter): "Sie nutzen meine Notlage aus! Ich werde Sie anzeigen!"

Rechtsanwalt: "Ah, Sie möchten gehen. Das trifft sich gut, ich sehe sowieso gerade, dass ich jetzt einen anderen Termin habe. Auf Wiedersehen."

Mandant ab.

Rechtsanwalt (zu sich selbst): "Den nächsten bringe ich um, ich bringe ihn um..."

* = Wort oder Name kann durch jedes andere beliebige Wort oder Namen ersetzt werden.


Freitag, 14. Juni 2013

Paula Schumacher kann auch anders


Lieber Herr Kollege Burhoff,

wie ich lese, haben Sie auch so ein lustiges Schreiben erhalten. Ich fand meines schon beachtlich, weil es so eine fröhliche Mischung ist aus ziemlich echtem Stil und völlig abwegigem Inhalt. Aber eins habe ich dank Ihres Beitrages dazu gelernt: Paula Schumacher hat viele Namen und sie führt viele Gesellschaften. Zum Beispiel auch die "Nelly Haas Inkasso Anwaltschaft" .

Hier ist der einkopierte Beweis. Man beachte die Phantasie beim Entsinnen der Rechtsgrundlagen (ganz andere Ordnungsziffern als in Ihrem Schreiben) - und das bei identischen Rechtschreibfehlern!

Sehr geehrte/r Christoph Nebgen,

wir wurden von der Firma Pearl Shop GmbH beauftragt die finanziellen Interessen zu vertreten. Die Bevollmächtigung wurde anwaltlich zugesichert. 

Mit der Rechnung vom 17.04.2013 haben Sie sich vertraglich verpflichtet die Summe von 379,00 Euro an Pearl Shop GmbH zu zahlen. Dieser Verpflichtung sind Sie bis heute nicht nachgekommen. Weiterhin sind Sie aus Gründen des Verzuges gezwungen die Ausgaben unserer Beauftragung zu tragen. 

Diese ergeben sich gemäß dieser Kostenrechnung:

EUR 16,00 (nach Nr. 949 RGV}
EUR 18,00 (Vergütung gemäß § 4 Abs. 1 und 2 RVG} 

Wir zwingen Sie mit Kraft unserer Mandantschaft den gesamten Betrag auf das Konto unseren Mandanten zu überweisen. Die Bankdaten und die Einzelheiten der Bestellung finden Sie im angehängtem Ordner. Für den Eingang der Zahlung geben wir Ihnen eine letzte Frist bis zum 18.06.2013. 

Das Einhalten dieser Pflicht liegt auch in Ihrem Interesse. Falls Sie diese Frist fruchtlos verstreichen, werden ohne weitere Aufforderung gerichtliche Schritte einleitet. Dadurch werden Ihnen weitere, beträchtliche Mahnkosten entstehen. 

Mit freundliche Grüßen Nelly Haas Inkasso Anwaltschaft


Angepisst


Wie selten sieht man das: Angeklagter und Geschädigter verlassen in trauter Einigkeit angeregt quatschend das Gerichtsgebäude.

Aber mal ehrlich, Staatsanwaltschaft Hamburg: Wäre es wirklich notwendig gewesen, wegen Beleidigung einen Strafbefehl über EUR 1.500,00 zu erlassen, nur weil der Angeklagte in einem Fußballstadion uriniert und einen Ordner getroffen hat?


Donnerstag, 13. Juni 2013

Fehlendes Vertrauen


Heute erreichte mich eine Mandatskündigung.

Die Mandantin schreibt, Grund für die "Kündigung mit sofortiger Wirkung" sei, dass ich sie habe veranlassen wollen,

"eine Vereinbarung zu unterschreiben, nach der sie eine Vergütung ... an mich zahlen"

solle. Die Höhe der Vergütung befand sich übrigens im Rahmen der gesetzlichen Vergütung für die Verteidigung im Vor- und Hauptverfahren bei zwei Verhandlungstagen.

Das lustige Schreiben übersendet mir der neue Rechtsanwalt ihres Vertrauens.

Da weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll.



Dienstag, 4. Juni 2013

Das zufriedene Opfer


"So werden aus Opfern zufriedene Mandanten": So wirbt der Deutsche AnwaltVerlag für sein Buch "Das 1x1 des Opferanwaltes". Per E-Mail. Das erinnert mich daran, den DeutschenAnwaltVerlag mal daran zu erinnern, hier nicht mehr anzurufen und keine Werbemails mehr zu schicken.

Bei dem hier beworbenen Titel assoziiert man doch sogleich fröhliche Menschen, die es geschafft haben, ihren Widersacher mit Hilfe eines findigen Rechtsanwaltes der Strafjustiz auszuliefern. Eine win-win-Situation zu Lasten des "Täters", der nach dem Gesetz als unschuldig zu gelten hat. Da lächelt das Opfer zufrieden.

Geschrieben hat dieses Werk Rechtsanwalt Frank K. Peters, der bereits als Opferspezialist in Erscheinung getreten ist, als er in einem strafrechtlichen Fachzeitschrift die Einführung eines Fachanwaltes für Opferrecht angeregt hat. Vergleiche hier, hier und hier.

Zeit, wieder als Täteranwalt tätig zu werden.


Montag, 3. Juni 2013

Das Recht ist kein Verschiebebahnhof


Vor dem Landgericht Berlin ist der Prozess gegen mehrere Angeklagte wegen der Prügelattacke vom Alexanderplatz (Fall Johnny K.) "geplatzt". Das Gericht hat angekündigt, das Verfahren auszusetzen. Ob dabei dem Befangenheitsantrag der Verteidigung gegen einen Schöffen stattgegeben werden wird, ist noch nicht bekannt. Für das Verfahren ist das aber relativ egal. Wenn der Prozess ausgesetzt wird, muss er irgendwann - vor einem neu besetzten Spruchkörper - neu begonnen werden. Es ist in jeder Hinsicht unwahrscheinlich, dass dann derselbe Schöffe nochmals über diese Anklage zu Gericht sitzen wird.

Vorausgegangen war dem Befangenheitsantrag ein Wortgefecht des Schöffen mit einem Zeugen, bei dem sich der Schöffe wohl ein wenig in der Wortwahl vergriffen hatte ("Sind Sie zu feige oder wollen Sie uns verarschen?") und dazu dann auch noch der Presse ein Interview gegeben haben soll. Soll.

Der Verlauf ist ärgerlich, die Entscheidung rechtsstaatlich wohl geboten. Interessant ist aber, was der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft zum Befangenheitsantrag der Verteidigung gesagt haben soll: Der soll das Verhalten des Schöffen zwar ebenfalls kritisiert haben, sich aber ausdrücklich gegen eine Ablösung des Schöffen eingesetzt haben.

Prozesse wären einfacher, fairer und wahrscheinlich auch effizienter, wenn sich alle Beteiligten ab und zu drei Regeln vor Augen führen würden:

  1. Das Recht gilt immer und für jeden gleichermaßen. Es muss dementsprechend auch immer und auf jeden gleichermaßen angewendet werden.
  2. Das gilt in persona besonders auch für Laienrichter, Berufsrichter, Staatsanwälte und - wir wollen die hier ruhig dazu nehmen - Polizisten.
  3. In der Sache gilt das Recht inbesondere auch dann, wenn es einem oder mehreren Prozessbeteiligten Mühe und Kosten bereitet. Das Recht ist kein Verschiebebahnhof, hat ein Verfassungsrichter dazu mal gesagt.