Dienstag, 27. November 2012

Justitias Leiden


Der Kollege Thomas Hollweck hat hier einen Ratgeber für das Jura-Studium geschrieben, der hier leider nur verrissen wird.

Mich erinnert die Diskussion an eine wirklich großartige Passage aus dem Roman "Ballmanns Leiden" von Herbert Rosendorfer, allen Juristen zum Lesen dringend empfohlen. Das Buch handelt von einem Richter - Ballmann - der eines Tages beschließt, nicht mehr zum Dienst zu erscheinen und sich fortan vor aller Welt verleugnen lässt. Das Kollegium hält ihn für verrückt; der Herbert Rosendorfer lässt durchaus beabsichtigt die Frage aufscheinen, ob nicht es nicht eher die Richterschaft selbst ist, die verrückt ist.

Aber es gibt auch Lichtblicke in der so beschriebenen Richterwelt. So treffen sich ein alter Oberstaatsanwalt und der Landgerichtspräsident, um zu besprechen, wie die Justiz mit dem mutmaßlich dem Wahnsinn verfallenen Kollegen umgehen soll. Dabei hält der Oberstaatsanwalt einen beachtlichen Vortrag, in dem er ein Grundproblem der Justiz geißelt, das er als "bloß-begriffliches Denken" bezeichnet. Sein Vortrag - von mir um Dialogelemente gekürzt - lautet wie folgt:

"Bloß begriffliches Denken. Man kann auch sagen: Denken aus zweiter Hand. Schau Dir doch einmal die Urteile unseres Obersten Landesgerichtes an oder die vom Bundesgerichtshof. Da wagt keines einen Gedanken, der nicht schon vorgekaut ist. Die trauen nicht einmal dem Text des Gesetzes. Es gibt Rechtsfälle, sogar komplizierte Rechtsfälle, die mit Anwendung eines einzigen Paragraphen zu lösen sind, man muss nur wissen, mit welchem. Natürlich sind unsere Oberst-Räte und Bundesrichter nicht so dumm, dass sie nicht den Paragraphen wüssten, aber eher würden sie sterben, als eine Sache mit so einer einfachen Entscheidung zu lösen. (...)  Halten Sie die richtige Ordnung ein! Die richtige Ordnung ist eine Reihenfolge, die, möchte man meinen, selbstverständlich ist: drei Viertel aller denkbaren Rechtsfälle lassen sich durch schlichtes Anstrengen der eigenen Gehirnzellen lösen. Von der Hälfte des verbleibenden Viertels genügt eine weitere bescheidene Anstrengung: ein Blick ins Gesetz. Für neunzig Prozent des verbleibenden Teils bedarf es des Nachschlagens in einem Kommentar, und erst, wenn einen das nicht weiterbringt, in einem verschwindenden Bruchteil von Fällen, ist es nötig, der Rechtsprechung und der Literatur nachzugehen. Aber schau unsere Kollegen an: erzählst Du einen Fall, schon schreien sie, sie wüssten eine einschlägige BGH-Entscheidung, die auf den Fall passt. Übrigens passen in den seltensten Fällen die Entscheidungen, wenn man genauer nachliest; passen tun allenfalls die markigen Leitsätze, die in der "NJW" fettgedruckt sind. Alle lesen nur das Fettgedruckte, und was fettgedruckt wird, entscheidet der Redakteur. Das ist auch noch nicht untersucht worden: der Einfluss der "NJW"-Redakteure auf die Rechtsfortbildung. Er ist wahrscheinlich größer als der des BGH."
Gegen diese Tirade unternimmt der Landgerichtspräsident nur eine recht klägliche Gegenrede und muss sich schließlich anhören:
"Durch die Bank zäumen all, namentlich die Obergerichte, den Gaul von der verkehrten Seite auf. Weißt Du, woher das kommt? Es ist die Angst vor der Verantwortung. Wer seine Entscheidung auf möglichst viele Zitate stützt, verteilt die Verantwortung auf alle möglichen anderen Instanzen, und wenn er genug Zitate zusammenrecht, kann er selber zum Schluss nichts mehr dafür."
Das hat wahrscheinlich niemand vor ihm und niemand nach ihm so treffend ausgedrückt. Und deshalb hat der Kollege Hollweck mit seinen Ratschlägen gar nicht so unrecht, wie es der eingangs angesprochene  Lehrbeauftragte in seinem Beitrag darstellt.

8 Kommentare:

  1. Und welcher Wahrheit soll ich nun glauben?
    LG, stud-iur

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  2. wie üblich: kommt darauf an. ich bin allerdings ein wenig gegen die Juristerei allein für das Staatsexamen. und ein bisschen was gelesen, das nicht direkt mit der Prüfung zu tun hat, ist auch Bildung. Manche meinen, es läuft allein der Repititor und die Zusammenfassung des Kurzlehrbuchs. ich finde das zu wenig.
    ich bin für meine Wahrheit. ich hab recht. oder mal ausnahmsweise nicht?

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  3. Sie wünschen sich Richter, die die Gesetze einfach mal so anwenden, wie sie es selbst und ganz persönlich für richtig halten? In Wahrnehmung ihrer eigenen richterlichen Verantwortung? Echt jetzt?

    Den Richtern würde das sicher gefallen. Ob Ihnen die Ergebnisse gefallen würden, ist nicht so sicher.

    Und ob es den Ergebnissen zugute käme, wenn man es nicht erst als Richter so machen würde, sondern vom ersten Tag des Studiums an nicht anders gelernt hätte, erscheint noch mehr fraglich.

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    1. Ich wünsche mir Richter, die Gesetzte so anwenden, wie sie gemeint sind.

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    2. Da erliegen Sie aber einem Zirkelschluss - wir wollen doch gerade herauskriegen, wie die Gesetze gemeint sind, und fragen uns, ob bloßes Lesen dafür reicht.

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  4. Hallo Herr Nebgen,

    ein "Verriss" war nun nicht mein Ziel. Der Autor des Ratgebers hat ja auch einiges richtiges geschrieben (Hausarbeiten, Praktika). Das habe ich auch nicht unerwähnt gelassen. Im Grunde geht der Autor jedoch einen extremen Weg (keine Lehrbücher, keine Vorlesung) und ruft deshalb selbstverantwortlich provokante/drastische Kommentare (meinen) auf den Plan.

    Es ist natürlich (leider) traurige Praxis, dass sich immer mehr Studenten durch das Rep quälen und meinen "Rechtswissenschaften studiert" zu haben, wenn nur ein Examen bei rum gekommen ist. Da bleibt einiges auf der Strecke...

    Ansonsten ist Ihre Replik (Ballmann) natürlich gut, bezieht sich jedoch auf die "Verwissenschaftlichkeit" der Rechtsprechung. Mir geht es um die Bewahrung der Wissenschaft an der Universität, insoweit zwei Seiten der gleichen Medaille (Juristerei).

    Beste Grüße aus Berlin

    Tibor Schober


    p.s. ich bin nicht nur "der Lehrbeauftragte" sondern primär auch Anwalt!

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    1. Hallo Herr Kollege Schober!

      Zu extremen Wegen wird man als Rechtsanwalt ja manchmal gezwungen...;-)

      Im übrigen sind wir wohl alle einer Meinung, dass Studenten sich auch mit "nicht examensrelevanten" Fachgebieten befassen sollten. Was herauskommt, wenn das unterbleibt, merkt man leider täglich in der Praxis.

      Gruße nach Berlin
      Christoph Nebgen

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  5. Ich kenne viele Richter, die angesichts des unübersichtlichen Wusts an Rechtsprechung und Literatur nur noch anhand des "puren" Gesetzestextes entscheiden. Das ist zwar meistens lustig, aber selten richtig. Entgegen der Ansicht des Herrn OStA in "Ballmanns Leiden" landen die meisten Fälle, die so einfach zu lösen sind, gar nicht vor Gericht (es sei denn, er spricht allein für das öffentliche Recht). Im Zivilrecht hingegen werden derart eindeutige Fälle von der Anwaltschaft bereits außergerichtlich gelöst. Und das betrifft glücklicherweise die große Mehrzahl der Fälle.

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