Freitag, 1. Oktober 2021

Meinungsäußerungsfreiheitsgesetz, im Grundgesetz verankert


Unter dem Hashtag #allesaufdentisch wurden am 30.09.2021 eine größere Anzahl Videos ins Netz gestellt, in denen jeweils ein Künstler mit einem "Experten" diskutiert. Die alle zu gucken, fehlt mir die Zeit und auch die Geduld, deshalb habe ich mir ein für mich besonders interessant scheinendes Video herausgesucht. Als Rechtsanwalt habe ich mich da natürlich für den Dialog zwischen dem Hamburger "Tatort-Kommissar" Wotan Wilke Möhring und dem Presserechtsanwalt Joachim Steinhöfel entschieden. Man findet es hier

Das Thema des Gesprächs ist "Meinungsfreiheit". Das ist ein großes Thema und von zumindest einem Teilnehmer an dem Gespräch erwartet man von Berufs wegen umfangreiche Kenntnisse darüber: Joachim Steinhöfel führt sich dann auch gleich als derjenige ein, der seit 2018 zahlreiche Prozesse wegen Löschungen und Sperrungen im Internet geführt und die allermeisten davon gewonnen hat.

Da fängt es dann aber auch schon an zu haken: An dieser Stelle fällt Wotan Wilke Möhring ihm ins Wort, damit sei man ja schon beim Thema, man wolle über Meinungsfreiheit und Zensur sprechen. Über Zensur wird man dann doch nicht mehr sprechen, das verkündet Wotan Wilke Möhring gegen Ende des Videos, entweder weil er sich in der Zeit vergaloppiert hat oder weil er es am Anfang schlicht falsch angekündigt hat, man weiß es nicht. Meinungsfreiheit also.

Das ist ein weites Feld, Luise, und es hätte sich angeboten zunächst einmal zu erläutern, was das eigentlich bedeutet, zumal man einen ausgewiesenen Fachmann im Gespräch hat. Aber der macht keinerlei Anstalten, die teilweise arg zusammenhanglose Rede Möhrings zu strukturieren oder in juristisch einigermaßen zutreffende Bahnen zu lenken. Möhring redet von einem "Meinungsäußerungsfreiheitsgesetz", das wir hätten, und das "verankert im Grundgesetz" wäre, und Steinhöfel sitzt daneben und lässt ihn reden. Zu der Vorgängeraktion #allesdichtmachen sagt Möhring, dass sei "ja nicht mal Meinung, sondern Kunst" gewesen, und Steinhöfel lässt auch diese Chance ungenutzt verstreichen, Art. 5 des Grundgesetzes mal zu erläutern. Man mag das für unbedeutende Fehler eines Fachfremden halten - aber warum ergreift Steinhöfel nicht die Gelegenheit, dem Zuschauer zu erklären, worum es eigentlich geht? 

Stattdessen doziert Steinhöfel bald über Hassrede; die Begriffskritik ist einigermaßen berechtigt, aber dann bringt er das Gespräch auf den Hamburger Innensenator, im Internet von einem User als "Pimmel" bezeichnet, was eine Strafanzeige und später eine Hausdurchsuchung nach sich zog. Die Hausdurchsuchung ist hochproblematisch, was aber mit der Meinungsfreiheit nichts nichts zu tun hat. Die Meinungsfreiheit wiederum hat höchstens indirekt etwas mit Youtube oder Facebook zu tun, die einigermaßen willkürlich Beiträge löschen oder Nutzer sperren. Die besagte Durchsuchung hat auch nicht etwa der Hamburger Innensenator angeordnet, sondern ein unabhängiges Gericht, hier aber wird munter weiter der Eindruck erweckt, es wäre die Politik, die in geschützte Rechte eingegriffen hätte. 

Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht, ein Recht gegen den Staat, nicht gegen YouTube oder Facebook. Das wäre einigermaßen einfach zu erklären, aber über zwanzig Minuten lang sagt das keiner, sondern zwei unterschiedlich begabte Redner tun so, als wäre Angela Merkel daran Schuld, dass YouTube Beiträge löscht und Andi Grote dafür verantwortlich, dass die Polizei eine Hausdurchsuchung macht. Steinhöfel hat gleich eine ganze Handvoll skandalöser Beispiele, in denen Prominente sich gegen aus ihrer Sicht übergriffige Meinungsäußerungen gewehrt haben, ein Mitglied des Rundfunkrates wird erwähnt, der den Münsteraner "Tatort-Kommissar" Jan Josef Liefers für dessen Beitrag bei #allesdichtmachen kritisiert - das alles soll angeblich die Meinungsfreiheit gefährden. Aber ist nicht gerade das genau die Meinungsfreiheit, von der hier angeblich geredet wird?

An einer Stelle spricht Wotan Wilke Möhring etwas an, das er "Recht auf Widerspruch" nennt und bezieht es ulkigerweise auf sich und seine Äußerungen. Auf die Idee, dass damit eher eine Pflicht gemeint ist, Widerspruch gegen die eigene Meinung zu ertragen, auf diese Idee bringt auch Steinhöfel ihn nicht. Und so empört man sich gemeinsam weiter und merkt nicht, dass man genau das macht, was man vorgibt zu kritisieren.

Dadurch vermitteln beide Diskutanten nicht ganz unerwartet den Eindruck, dass es ihnen eigentlich nicht um die Meinungsfreiheit geht, sondern vielmehr um bestimmte Meinungen, die sie gerne noch häufiger in der Öffentlichkeit sehen würden, die außer ihnen aber nicht sehr viele Menschen vertreten. Das ist dann vielleicht doch nur Demokratie.

Wer etwas über Meinungsfreiheit und ihre Grenzen lernen möchte, sollte sich dieses Werk sparen und lieber ein beliebiges Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 5 GG lesen. Vielleicht werden ihm (m/w/d) dann die Augen aufgehen.



Dienstag, 18. Mai 2021

Vom Beruf unserer Zeit zum Strafen

 

Was?

Der Bundestag hat mal wieder ein neues Strafgesetz beschlossen. Dem Abschnitt mit der Überschrift "Beleidigung" soll mit § 192a StGB eine neue Vorschrift hinzugefügt werden, die "Verhetzende Beleidigung". 


„§ 192a Verhetzende Beleidigung 

Wer einen Inhalt (§ 11 Absatz 3), der geeignet ist, die Menschenwürde anderer dadurch anzugreifen, dass er eine durch ihre nationale, rassische, religiöse oder ethnische Herkunft, ihre Weltanschauung, ihre Behinderung oder ihre sexuelle Orientierung bestimmte Gruppe oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, an eine andere Person, die zu einer der vorbezeichneten Gruppen gehört, gelangen lässt, ohne von dieser Person hierzu aufgefordert zu sein, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“


Die Vorschrift ist sprachlich und inhaltlich einigermaßen missglückt. An ihr lassen sich aber sehr schön einige grundsätzliche Probleme aktueller Strafgesetzgebung aufzeigen. Zunächst kommen wir aber mal zur Motivation für dieses Novum. Warum meint die Gesetzgebung, dass wir diese Norm bräuchten?


Warum?

Warum ein solches Delikt notwendig geworden sei, ist einer "Formulierungshilfe der Bundesregierung" zu entnehmen, veröffentlicht in einer Pressemitteilung des BMJV vom 12.05.2021. Kurz gefasst sei Begründung hierfür, dass es Verhaltensweisen gebe, die weder vom Tatbestand der Volksverhetzung, § 130 StGB, noch von dem der Beleidigung, § 185 StGB, erfasst würden, aber gleichsam strafwürdig seien. Gemeint ist das Versenden von Schreiben an Einzelpersonen oder Gruppen, mit denen bestimmte Gruppen oder Minderheiten beschimpft, bösartig verächtlich gemacht oder verleumdet würden. Was das im einzelnen heißt, schauen wir uns später noch an. 

Angeblich sei ein derartiges Verhalten bisher nicht strafbar, weil es für eine Volksverhetzung an der dafür erforderlichen "Störung des öffentlichen Friedens" fehle, für eine Beleidigung am konkreten Bezug zu der betroffenen Person. 

Diese Begründung taucht so oder ähnlich tatsächlich in einigen - freisprechenden - Gerichtsentscheidungen auf, z. B. bezüglich der Verwendung von dem Judenstern nachempfundenen Emblemen mit der Aufschrift "Impfgegner". Allerdings erscheint diese Begründung auch dort schon problematisch, weil sie möglicherweise gar nicht stimmt. Denn der "öffentliche Frieden" kann sehr wohl auch durch einzelne Handlungen gestört werden, auch der Bundesgerichtshof hat das immer wieder bestätigt, davon kann ich Ihnen aus erste Hand berichten. Und den "Bezug zu der betroffenen Person" kann man durchaus auch anders als durch direkte Anrede herstellen. Das Problem ist weniger, dass das Gesetz das nicht zuließe, das Problem ist mehr, dass die Instanzgerichte insbesondere die Vorschrift der Volksverhetzung offenbar sehr ungerne anwenden, meistens mit äußerst fraglichen Begründungen. Über die Motive dafür wollen hier mal nicht spekulieren, jedenfalls betreffen entsprechende Vorwürfe in der ganz überwiegenden Zahl Personen aus dem politisch "rechten" Bereich. Ob man Gerichten, die sich der Anwendung einer Vorschrift hartnäckig widersetzen, beikommt, indem man einfach eine neue Vorschrift ähnlichen Inhaltes erlässt, mag man bezweifeln. Aber sei es so. Das ist nicht die Hauptkritik.


§ 192a StGB (neu)

Nun soll es also diese neue Vorschrift retten. Wollen wir mal sehen, was der Bundestag uns da vor die Tür gelegt hat. Schon nach fünfmaligem Lesen hatte ich als Strafverteidiger mit zwanzigjähriger Berufserfahrung den einigermaßen soliden Eindruck, ich hätte die Formulierung verstanden. Immerhin!

Tathandlung ist, "einen Inhalt (erste Zeile) an Dritte "gelangen" zu lassen (sechste Zeile). Das versteht man allerdings erst, wenn man das Verb endlich gefunden hat. Darauf muss man immerhin fünf lange Zeilen warten, was auch beim geübten Leser das Verständnis durchaus erschweren kann. 

Zwischen direktem Objekt ("Inhalte") und zusammen gesetztem Verbum ("gelangen lassen") wird fünf Zeilen lang beschrieben, wie die erwähnten Inhalte denn beschaffen sein müssen. Das stellt man am besten mittels einer Art Baumdiagramm dar: 

Inhalt

geeignet,

die Menschenwürde anderer anzugreifen 

 durch (alternativ)

  • beschimpfen
  • böswillig verächtlich machen
  • verleumden 

 anderer

(und jetzt kommt's:) aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer durch folgende Eigenschaften bestimmten Gruppe (alternativ):


        • nationale 
        • religiöse 
        • rassische
        • ethnische Herkunft (jeweils alternativ)
        • Weltanschauung
        •  Behinderung
        • sexuelle Orientierung.                                    

                         

Strukturelles

Eigentlich zeichnet sich ein Gesetz dadurch aus, dass es generell-abstrakt ist, d. h., dass eine Vielzahl zahlenmäßig unbestimmter Sachverhalte in einer Vielzahl von Fällen regelt. Aufzählungen wie die oben mühsam dem Normtext abgerungene sind da kontraproduktiv: Schon melden sich die ersten und klagen, dass man auch wegen seiner sexuellen Identität angegriffen werden könne, diese aber im Text fehle. Was nun? 

Dazu lassen sich grundsätzlich zwei Meinungen vertreten:

Entweder man sagt, die Aufzählung sei abschließend, dann wäre die sexuelle Identität kein taugliches Merkmal im Sinne dieser Vorschrift, dessentwegen man beleidigt werden könnte. Oder man sagt, die Aufzählung sei offen, dann könnte auch die sexuelle Identität noch unter die löchrige Bettdecke der Norm schlüpfen. Allerdings fragt sich dann, warum man überhaupt eine Aufzählung gewählt hat und nicht, wie es einer Norm eigentlich eigen sein sollte, einen umfassenden Oberbegriff. 

Der Grund für diesen Missgriff scheint mir im Gesetzgebungsverfahren zu liegen: Man sieht an der Norm, wessen Lobbyisten am lautesten geschrien haben. Die hat man einfach namentlich genannt und sich die Mühe, eine abstrakte Formulierung zu finden, gleich ganz gespart. Im Ergebnis werden sich die Juristen demnächst also mit der Frage herumschlagen müssen, was nun mit denen ist, die nicht namentlich erwähnt werden. Genau so macht man eine Norm nicht. Ich meine ja nur. 

Definitionen

Die eigentlich juristische Arbeit liegt aber noch vor uns: Jeder dieser Begriffe und jedes der Verhältnisse der einzelnen Begriffe zueinander bedarf der juristischen Auslegung. Wenn Sie jetzt sagen: Ja, aber einige dieser Begriffe tauchen doch auch an anderer Stelle des Gesetzes bereits auf - kein Problem. Dann diskutieren wir eben eine Ebene höher, ob der Gebrauch des Wortes an beiden Stellen zwingend ein identischer sein muss. 

Zur Übung habe ich hier mal ein paar Fragen, die mir so spontan zu der Norm einfallen:

  • Wann ist ein Inhalt nicht nur beleidigend, sondern geeignet, die Menschenwürde anzugreifen?
  • Was ist "beschimpfen"?
  • Was bedeutet "böswillig verächtlich machen"? 
  • Bei wem muss dieses Böswilligkeit vorliegen? Beim Täter? Beim Verfasser des Inhaltes?
  • Wie stellt man diese Böswilligkeit fest?
  • Was ist diese Böswilligkeit juristisch? Objektive Voraussetzung der Tat? Subjektives Tatbestandsmerkmal? 
  • Was ist eine "Behinderung"? Zählt Lernschwäche darunter? Autismus? Fettleibigkeit?
  • Was ist eine "Weltanschauung"? Sind HSV-Fans auch betroffen? 
  • Was ist eine religiöse Herkunft? Gilt die Norm für Konvertiten etwa nicht? 
Und vor allem:

  • Was macht auch noch der Begriff "rassische Herkunft" in diesem miserablen Text? 
Hat man nicht gerade erst - nach bloß siebzig Jahren - entdeckt, dass es die in Artikel 3 des Grundgesetzes aufgeführte "Rasse" gar nicht gibt? Und jetzt soll man jemanden wegen seiner "rassischen Herkunft" verhetzend beleidigen können? Was soll denn eine "Rasse" sein? Das, was die Nazis inzwischen wieder dafür halten? Na, herzlichen Dank. 

Fazit

Ich freue mich. Ich bin schließlich Strafverteidiger. Ich werde mich mit allen diesen Fragen beschäftigen dürfen. Für Geld. Ihr Geld. 

P.S. 

Die Überschrift spielt an auf einen berühmten Aufsatz des noch berühmteren Juristen Friedrich Carl von Savigniy (der mit dem Platz in Berlin), 1779 - 1861. Der hat 1814 eine Streitschrift verfasst mit dem Titel: "Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft." Seine These: Diese Zeit hat keinen Beruf zur Gesetzgebung. Das ganze ist als "Kodifikationsstreit" in die Geschichte eingegangen. Aber das ist eine andere Geschichte.


 

 

 

 



Donnerstag, 29. April 2021

Freiheit und Willkür in Zeiten von COVID19

 Ausgangspunkt


In der Diskussion um den Umgang mit der Pandemie fällt immer wieder auf, dass einige Menschen ein merkwürdiges Verständnis von Freiheit propagieren. Als zufällig gewähltes Beispiel finden Sie hier einen Beitrag meines Rechtsanwaltskollegen Gerhard Strate aus dem "Cicero". 

Zusammengefasst sieht Gerhard Strate in den bei Schriftlegung geplanten, mittlerweile in Kraft getretenen Änderungen des Bundesinfektionsschutzgesetzes durch das 4. Bevölkerungsschutzgesetz (sog. Bundesnotbremse) "totalitäre Bestrebungen", die sich von der "ursprünglichen Bedeutung" der Grundrechte entfernten. Angeblich würden die Grundrechte - insbesondere Art. 2 GG - vom "Abwehrrecht des schutzlosen Individuums gegen die Zumutungen eines übermächtigen Kollektivs" durch Ausgangssperre und Lockdown "zur schnöden Versicherungspolice profanisiert". Nach diesen Maßstäben, so unkt er, müsste man demnächst auch bei Grippewellen(!) Maskenpflicht anordnen, Autos und Fahrräder ebenso verbieten wie Alkohol und Tabak, letztlich gar Haushaltsleitern, Küchenmesser und Strom, weil allesamt in irgendeiner Form Todesopfer fordern. 

Aus dem Text greife ich mal zwei Begriffe heraus, nämlich "Eigenverantwortung" und "Allgemeines Lebensrisiko", bevor ich zur Freiheit zurückkomme.


Eigenverantwortung


Staatliche Regelungen zur Pandemiebekämpfung (er nennt sie "Zwangsmaßnahmen") lehnt Gerhard Strate ab und setzt sie in Gegensatz zur Eigenverantwortung, auf die auch er setzen will. Das ist nicht neu, sondern taucht bei vielen Skeptikern der Corona-Maßnahmen auf. Schauen wir uns also einmal an, was "Eigenverantwortung" eigentlich bedeutet und ob das wirklich im Gegensatz zu staatlichen Regelungen steht. 

"Eigenverantwortung" bedeutet (zitiert nach Wikipedia) "die Bereitschaft und Pflicht, für das eigene Handeln und Unterlassen Verantwortung zu übernehmen". Das dürfte sich auch mit dem Allgemeinverständnis decken. Es heißt, jeder muss im Rahmen der geltenden Gesetze die Konsequenzen seines Tuns tragen - mehr nicht. Wer jemanden erschlägt, muss damit rechnen, wegen Totschlags verurteilt zu werden. Mit Art und Umfang oder gar Berechtigung der jeweiligen Regelung hat das überhaupt nichts zu tun. Man könnte hier in eine Diskussion über den Rechtspositivismus einsteigen, aber das ersparen wir uns mal.

Im Zusammenhang mit COVID19 soll mit dem Ruf nach mehr Eigenverantwortung offenbar ein Weniger an Regelungen gefordert werden. Das ist nach dem zitierten Wortsinn ein Widerspruch in sich: Ein weniger an Regelungen würde nämlich auch zu einem weniger an Eigenverantwortung führen: Menschen müssten für manche Schäden, die sie anrichten, nicht mehr haften. Das kann niemand wollen, würde es doch den Rechtsstaat und das Vertrauen in ihn destabilisieren. 

"Eigenverantwortung" erweist sich so als gefährliche Nebelkerze.


Allgemeines Lebensrisiko


Das allgemeine Lebensrisiko, von Gerhard Strate zum Prinzip erhoben, bezeichnet zunächst einmal alle Gefahren, die das Leben so mit sich bringt. Auf einige davon reagiert der Staat, auf andere nicht. Das hängt davon ab, wie groß der Staat die Gefahr einschätzt und wie die Abwägung der Rechtsgüter ausfällt. 

Nach aller Gesetzgebung bleiben einige Gefahren übrig, die man erdulden muss, ohne dass der Staat einen vor ihnen beschützt. Die Gefahr, bei Regen nass zu werden, ist so eine Gefahr, oder die Gefahr, dass einem nach übermäßigem Nahrungsgenuss irgendwann die Hose nicht mehr passt. Tatsächlich hat der BGH das mal für die Gefahr, in ein Strafverfahren verwickelt zu werden, entschieden. Zivilrechtliches Äquivalent ist die Gefahr, von anderen zu privatrechlichen Leistungen aufgefordert zu werden. Wer meint, nichts zu schulden, der leistet eben nicht und trägt das Risiko, verklagt zu werden. Erst im gerichtlichen Verfahren greift dann wieder der Staat mit seinem Kostenerstattungsanspruch ein und korrigiert das Risiko.

Ob eine Pandemie zu den Gefahren gehört, die ohne staatliches Eingreifen hinzunehmen sind, kann man diskutieren; der Begriff des allgemeinen Lebensrisikos hilft einem dabei aber wenig.


Freiheit


Es bleibt die Frage, was der Staat regeln darf oder gar muss, inwieweit er ein Grundrecht durch einfaches Gesetz einschränken darf oder gar muss. Durch Lockdown und Ausgangssperre ist vorrangig Art. 2 GG betroffen und so landen wir wieder beim Freiheitsbegriff. 

Die Skeptiker der Regelungen zur Pandemiebekämpfung fühlen sich durch Lockdown oder Ausgangssperre in ihrer Freiheit eingeschränkt. Das klingt auf den ersten Blick nachvollziehbar, schaut man es sich genauer an, ändert sich das Bild.

Denn Freiheit im Sinne des demokratischen Rechtsstaates ist nicht die Freiheit, alles tun zu dürfen, worauf man gerade Lust hat. Freiheit im Sinne des demokratischen Rechtstaates ist nicht die Freiheit, mit dem Porsche ungebremst durch die Einkaufszone zu brausen oder bei Pandemie keine Maske zu tragen. Diese Freiheit ist keine Freiheit, sondern Willkür. 

Die Freiheit, die das Grundgesetz meint, ist die Freiheit, die durch seine Regeln erst entsteht, die Freiheit, die ich dadurch erlange, dass ich einigermaßen sicher davon ausgehen darf, dass andere gerade nicht mit dem Porsche durch die Einkaufszone brettern. Das Verbot hingegen, mit dem Porsche durch Einkaufszonen zu brettern, ist keine Einschränkung von Freiheit, sondern Garantie von Freiheit. Man darf die Freiheit eben nicht immer nur auf sich selbst beziehen, man muss sie im gesellschaftlichen Zusammenhang sehen.

Dieser Freiheitsbegriff stammt übrigens - natürlich - nicht von mir. Er stammt von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Mehr zum Freiheitsbegriff von Hegel gibt es in diesem Interview des DLF mit Klaus Vieweg.


Montag, 26. April 2021

Erbunwürdig - eine tatortkritik


 "Was wir erben", heißt die jüngste Folge der Reihe "Tatort" und verdient eine Würdigung. Jetzt reicht's - könnte man auch sagen. Und da die Kollegin Braun gerade nicht im Dienst ist, melde ich mich hier zu Wort.


Vorbemerkung


Mit Juristen eine Folge "tatort" zu schauen ist keine Freude, ich weiß. Das muss etwa so sein, wie mit Medizinern eine Folge "Grey's Anatomy" zu gucken, denke ich. Aber ich sehe diesen Filmchen mittlerweile wirklich eine Menge nach. Ich habe eingesehen, dass ein guter Plot eine Menge dramaturgische Verkürzungen benötigt und auch verträgt. Ich habe mich von engstirnigen juristischen Pingeligkeiten gelöst und gelernt, großzügig über vieles hinweg zu schauen. Aber. 

Ich versuche mal eine Strukturierung: Es gibt dramaturgische Verkürzungen, die sind weitgehend unschädlich, wenn sie der Story dienen. Wenn die gesamte Polizeiarbeit im "tatort" von zwei "Kommissare" genannten Beamten geführt wird, dient das der Übersichtlichkeit und Identifikation. Wenn die verantwortliche Vernehmung noch am selben Tag wie die Tat geschieht, dann dient das der Straffung der Handlung. Es ist verzeihlich, dass all das nicht der Realität entspricht. Wenn ein Beamtenpärchen in Zivil neunzig Minuten lang wie die Zeugen Jehovas an Türen klingelt, um Leute zu befragen, kommen wir allerdings schon in den Bereich dramaturgischer Gestaltung, deren Notwendigkeit sich mir nicht unbedingt erschließt. Und wenn ich einen "tatort" schreibe, der unüberhörbar vom "Erben" handelt, wären zumindest Grundkenntnisse vom Erbrecht wünschenswert. Hier ruht das eigentliche Desaster dieses Filmes, aber dazu später.

Dramaturgische Verkürzungen, unschädliche


Wollte man Polizeiarbeit realistisch abbilden, es wäre schrecklich langweilig. Viele Beamte sitzen in einem trostlosen Büro, die meiste Zeit besteht aus Warten und wenig telegenen Tätigkeiten wie Ablage oder Dienstbesprechungen. Aus dieser Langeweile dann einen trotzdem sehenswerten Film zu machen, ist große Kunst. Einige vorwiegend amerikanische Serien haben das versucht ("Hill Street Blues"), hierzulande hat sich das Konzept nie durchgesetzt. Aber muss ja auch nicht sein.

Es ist völlig in Ordnung, wenn man die Polizeiarbeit auf zwei Personen verdichtet. Dies ermöglicht dem Zuschauer die Identifikation mit den Hauptfiguren. Obwohl ich mich manchmal frage, warum deutsche Krimis praktisch immer aus der Sicht der Ermittler geschildert werden, und so die Identifikation des Zuschauers mit der Staatsmacht voraussetzen. Da könnte man soziologisch einiges hineindeuten, aber das wollen wir hier mal nicht tun.

Auch, dass die für die polizeiliche Ermittlungstätigkeit geltenden Regeln der Prozessordnung keine Rolle spielen: geschenkt. Die Ermittler ("Kommissare") laufen herum und befragen Leute, ohne jemals jemanden zu belehren oder auch nur klarzustellen, ob es sich um Zeugen oder Beschuldigte handelt. Für die Story ist das nicht wichtig, ich weiß. Obwohl ich mich manchmal noch bei der Frage ertappe, wie wohl all diese in feudal wirkenden Wohnzimmern der Tatverdächtigen geführten Vernehmungen später zur Akte gelangen. Setzen sich die Beamten da abends(?) hin und schreiben Erinnerungsvermerke?

Auch scheint in der Welt des "tatort" ein anderes Raum-Zeit-Kontinuum zu herrschen: In diesem "tatort" beispielsweise stellt eine Angehörige des Opfers eine "Strafanzeige", von deren Existenz und Inhalt bereits Minuten später alle Ermittler wissen. Möglicherweise gibt es da bei der Polizei eine Wissensverbreitung über morphische Felder, von der wir Zivilisten nichts wissen. In der Realität hätte eine solche Eingabe erst einmal ein Aktenzeichen erhalten und wäre irgendwohin abverfügt worden, bis dann Wochen später irgendeine Reaktion gefolgt wäre. 

Für die Ermittlungen - und übrigens auch für den Plot - ist diese Strafanzeige völlig überflüssig, womit wir uns der zweiten Kategorie nähern: den unnötigen und ärgerlichen dramaturgischen Verkürzungen.

Unnötige und ärgerliche dramaturgische Verkürzungen


Der "tatort" spielt uns vor, diese "Strafanzeige" wäre von irgendeinem - gar großen - Belang. Tatsächlich ist sie ein Nullum, nimmt in der Handlung keinerlei erhebliche Rolle ein und wird dafür minutenlang völlig überflüssigerweise thematisiert.

Angezeigt wird nach der Wortbedeutung übrigens kein "Täter" - der Jurist würde "Beschuldigter" dazu sagen - den sucht sich die Polizei schon selbst. Angezeigt wird eine Straftat. Die ist in unserem Fall aber längst bekannt, schließlich ermittelt die Polizei ja sogar schon. Was also soll dieses Gerede von der Strafanzeige?

Klassischer Bestandteil jedes deutschen Kriminalfilms ist die unangekündigte Vernehmung der wohlhabenden Beschuldigten in deren Wohnzimmer. Ich verstehe das; es wäre ja langweilig, immer dieselbe graue Wand auf dem Polizeirevier zu zeigen, wo diese Vernehmungen üblicherweise tatsächlich stattfinden. Wenn aber der vernehmende Beamte bockige Vernehmungspersonen routinemäßig damit droht, dann müsse er "Sie eben vorladen", dann ist der Punkt erreicht, an dem ich mich frage, was mir dieser Film eigentlich weismachen will. Den Polizisten stellen den Beteiligten ohne Unterlass in deren Zuhause nach, um sie zu Aussagen zu nötigen; der Normalfall wird dabei zur Drohung. Im aktuellen "tatort" treibt diese Vernehmerei besonders abstruse Blüten: Da wird eine Tatverdächtige(?) von den Beamten aus dem Krankenzimmer ihrer im Sterben liegenden Mutter genötigt ("Sie kommen jetzt mit") und dieses Verhalten als "normale" Polizeiarbeit verkauft. Da wundert es auch niemanden mehr, wenn eine Masse der Bürger es für völlig normal hält, wenn Beamte in der Realität Beschuldigten mit Folter drohen. 

Natürlich kann so etwas auch in der Realität gleichwohl vorkommen und kommt leider auch vor. Wenn man es dann zeigt, würde man erwarten, dass der Film es als strafrechtlich relevantes Fehlverhalten der Beamten thematisiert. Das tut er aber mit keinem Wort, und so kommt man sich etwas vor wie im Propagandavideo einer totalitären Polizeigewerkschaft.

Kriminologisch finde ich das hochbedenklich, weil die Darstellungsweise in Filmen bei den meisten Menschen die Vorstellung von der Realität weit mehr prägt als die Realität selbst. Die meisten Menschen werden nämlich gar nicht so oft von der Polizei vernommen. Sollte es dann aber doch irgendwann einmal soweit sein, können sie die Situation nicht einordnen, weil sie soviel Schrott im "tatort" gesehen haben. Allerdings: Immerhin gab es in diesem "tatort" einen Straftverteidiger, der die zwischenzeitliche Beschuldigte zur Vernehmung begleiten und sogar einen Satz sagen durfte. Das ist in dieser Form zwar auch völlig am Normalfall vorbei, aber da wollen wir mal wieder Nachsicht walten lassen. Es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel das Folgende. 

Quatschjura als Inhalt


Diese "tatort"-Folge beschäftigte sich mit dem "Erben", und das ist eigentlich ein Ansatz, der viele dramaturgische Möglichkeiten bietet. "Erben" hat nicht nur eine rechtliche Komponente, sondern birgt auch Ansatzmöglichkeiten für allerlei soziale und Gerechtigkeitsdiskussionen.

Gerüst der Story ist, dass eine Person ("Elena") von außen durch Heirat in die Unternehmerfamilie eindringt, und dadurch das Familien- und Erbgefüge der Beteiligten verschiebt. Zudem ist es eine gleichgeschlechtliche Ehe, die Einheiratende war zuvor Pflegeperson ihrer Gemahlin und hinter allem steht ein Zwangsarbeiterdrama aus der NS-Zeit. Das wäre Stoff für mindestens drei Dramen, der "tatort" lässt alle drei irgendwann links liegen und leistet sich einen absurden Plottwist:

Die von allen des Mordes aus Habgier (Krimideutsch: "Erbschleicherei") verdächtigte ehemalige "Gesellschafterin" Elena kommt ihrerseits ums Leben, und der "Kommissar" weiß sogleich warum: Sie sei zwar durch die Heirat mit dem Opfer erbberechtigt geworden, habe aber ihren Pflichtteil noch nicht geltend gemacht, weshalb durch ihren Tod alles wieder an die Familie zurückfalle. Daran ist juristisch fast alles falsch und man fragt sich: Warum macht der Drehbuchautor etwas zum Thema seines Drehbuches, von dem er ersichtlich keinerlei Ahnung hat? Muss ich bei dieser Qualität der Recherche damit rechnen, dass gleich ein Dinosaurier aus dem Meer steigt oder die Polizei auf Säbelzahntigern Streife reitet?

Das entstehende Erbrecht ("Erbe") ist etwas anderes als der Pflichtteilsanspruch; das Erbrecht entsteht mit dem Tode des Erblassers ("Opfer") beim (gesetzlichen oder testamentarischen) Erben; der Pflichtteilsanspruch entsteht als Anspruch gegen die Erben dann, wenn ein gesetzlich Erbberechtigter von der Erbfolge durch Testament ausgeschlossen ("enterbt") wurde. Vor allem aber ist das Erbrecht seinerseits vererbbar, selbst der - im Film völlig anlasslos zum Thema gemachte - Pflichtteilsanspruch wäre vererbbar und würde keinesfalls beim Tod der Berechtigten an "die Familie" zurückfallen. Für diese Art des vorgeblichen Rechtswissens hat sich in der Juristenblase auf Twitter der Hashtag #Quatschjura etabliert. 

Die gesamte Handlung wird im Film um diese Unsinnskonstruktionen herum konstruiert und ich frage mich: Wäre es nicht einfacher gewesen, einmal "Erbrecht" zu googeln als sich sein eigenes privates Erbrecht extra für diese Episode des "tatort" auszudenken? 

So bleibt dieser "tatort" als Tiefpunkt dieser Reihe wahrscheinlich für immer in meinem Gedächtnis. Auch ein Renommee.