Freitag, 13. Januar 2017

Schlimmer als gerecht


Unter dem Titel "Ich versuche, wirklich gerecht zu sein" erschien gestern bei Süddeutsche.de der Bericht eines - Lars M. genannten - Amtsrichters. Die Lektüre ist lehrreich, aber quälend. Wer bis dato geglaubt hatte, Richter wären latent rechtsstaatsfeindlich eingestellt und hätten von Straf- und Prozessrecht keine Ahnung, der erfährt hier: Das stimmt. Und es ist alles noch viel schlimmer.

Der Arbeitsbericht dieses Richters ist so absurd, dass manch Rechtsanwalt sich nicht getraut hätte, etwas derartiges auch nur in parodistischer Absicht über Richter zu äußern. Wenn dieser Bericht bloß halbwegs authentisch sein sollte - wovon wohl auszugehen ist - dann steht es schlimm um den Rechtsstaat.

"Lars M." zeigt sich oberflächlich menschenfreundlich, er erklärt seinen Angeklagten offenbar gerne und viel und rät dem Leser:

"Falls Sie einmal vor Gericht landen, seien Sie freundlich und - wenn Sie Mist gebaut haben - einsichtig.

Denn bei "Gericht kann eigentlich jeder landen". Der Gedanke, dass ein Angeklagter keinen "Mist gebaut" haben könnte, kommt ihm allerdings auf fünf Seiten kein einziges Mal. Die Unschuldsvermutung findet im ganzen Artikel ebenso häufig Erwähnung, nämlich gar nicht. Lars M. sieht es ganz offenbar auch nicht als seine Aufgabe, den Tatvorwurf aufzuklären - auch hiervon ist in dem Artikel nicht ein einziges Mal die Rede. Stattdessen möchte er die Seele der Bösewichter ergründen:

"Ich gebe keine Lebenstipps, aber ich will wissen, woran es hakt."

Denn:

"Freisprechen kann ich so einen (Unfallfahrer) nicht, wenn der Staatsanwalt einen Strafbefehl beantragt hat."

Ja, das steht da wirklich. Dieser Richter sagt allen Ernstes in einer als intellektuell geltenden Tageszeitung, er könne nicht freisprechen, wenn die Staatsanwaltschaft etwas anderes beantragt hat. Da ist sie offenbar auf einmal dahin, die richterliche Unabhängigkeit, die sonst immer allen so wichtig ist.

Andererseits müsse er sich natürlich "als Richter an die Gesetze halten", hätte aber

"einen größeren Ermessensspielraum als viele denken".

Und jetzt hört der Spaß langsam auf lustig zu sein.

Richter haben alles mögliche, aber keinen Ermessensspielraum. Wenn jemand der Tat nicht überführt werden kann, ist er freizusprechen, dazwischen ist nichts. "Ermessensspielraum" ist ein Begriff aus dem Verwaltungsrecht, der hier auch nicht von einem Laien mal eben versehentlich falsch verwendet wurde - hier schreibt ein Richter (!) und er schreibt: Stuss.

Er beschreibt auch noch einige Einzelfälle, die vor Rechtsfehlern nur so strotzen. Wenn schon sein Betrag in einer überregionalen Tageszeitung derartig fehlerhaft ist - man mag sich nicht ausmalen, wie seine Urteile aussehen.

Nur ein Beispiel:

"Wenn jemand mehr als 1,6 Promille hat, gilt er als absolut fahruntauglich und macht sich strafbar. Dem muss ich eine Geldstrafe aufbrummen, oft ein ganzes Monatsgehalt. Noch härter sind die Folgen: Der Verurteilte muss zum MPU-Test (alleine schon dieser Ausdruck, Anm. d. Verf.), sonst verliert er seinen Führerschein und darf theoretisch nicht einmal mehr Fahrrad fahren."

Auch hier muss man erst vorsorglich nochmals dazusagen: Das steht da wirklich.

An diesen Aussage ist so ziemlich alles falsch - und da solche Fälle in der Praxis ständig vorkommen, wird man befürchten müssen, dass der Herr Amtsrichter sie auch in seinem Beruf ständig falsch macht. Das ist nur noch erschütternd.

Auch für die juristischen Laien habe ich mal nur aus diesem einen Absatz alle fehlerhaften Aussagen herausgesucht; es handelt sich um fünf Zeilen.

  • Absolut fahruntauglich ist man bereits mit 1,1 Promille.
  • Strafbar macht man sich bereits dann.
  • Dem folgt keinesfalls zwingend eine Geldstrafe.
  • Man verliert nicht den "Führerschein", sondern die Fahrerlaubnis wird entzogen.
  • Man "muss" auch nicht zur MPU (das "U" steht übrigens für "Untersuchung", der "Test" ist daher doppelt gemoppelt); die MPU ist eine Auflage, an die die Fahrerlaubnisbehörde (nicht der Richter!) unter Umständen die Neuerteilung der Fahrerlaubnis knüpft.
  • Zum Fahrradfahren braucht man keine Erlaubnis.
Was der Herr Amtsrichter mit dem theoretischen Dürfen meint, müsste er mir nochmal erklären.







17 Kommentare:

  1. Bei den von Ihnen zitierten Teil geht es um einen alkoholisierten Fahrradfahrer. Dabei sind 1,6 Promille schon richtig.

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  2. Bzgl. der absoluten Fahruntüchtigkeit ging es aber um einen Radfahrer, und da gilt - zumindest nach dem BGH - die 1,6er Grenze

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  3. Ich diskutiere hier ungern, aber: In dem von mir zitierten Satz heißt es "jemand"; von einem Fahrradfahrer ist da nicht die Rede. Da auch eine Bezugnahme auf den vorhergehenden Satz fehlt, habe ich den Satz isoliert zitiert. Anders wäre es, wenn da stünde: "Wenn SO jemand mehr als 1,6 Promille hat".

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  4. Es stimmt aber, dass der Beitrag des Amtsrichters auch sprachlich so erbärmlich ist, dass er sich vielleicht tatsächlich nur missverständlich ausgedrückt hat. Das fände ich aber fast noch schlimmer.

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    1. Sie sind offenbar (mal wieder) der Einzige, der es nicht verstanden hat.

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  5. Ich habe gerade hier

    https://www.anwalt.de/rechtstipps/alkohol-am-lenker-was-droht-fahrradfahrern_037401.html

    gelesen, dass auch das Radfahren verboten werden kann. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber immerhin ... ;-)

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  6. Der Beitrag ist sprachlich durchaus etwas grenzwertig, und ich kann mir vorstellen, dass da ein Redaktionspraktikant mitredigiert hat. Zumal der Beitrag von "Anna Fischhaber" stammt, trotz der angeblichen Herkunft unmittelbar vom Richter selbst in Ich-Form.
    Aber stutzig macht einen zB, wenn Staatsanwälte "von der Uni" kommen, zumal jeder Richter unabhängig von seinen Rechtskenntnissen weiß, dass sie allenfalls vom 2.Exanem, aber sicher nicht frisch von der Uni kommen.
    Aus der Formulierung "falls Sie vor Gericht landen zeigen Sie sich einsichtig, wenn Sie Mist gebaut haben" ergibt sich mE grammatikalisch zwanglos, dass man auch vor Gericht landen kann, ohne Mist gebaut zu haben und dann gerade nicht einsichtig zu sein braucht.

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  7. In dem ganzen Absatz geht es nur um Radfahrer. Wörtlich:

    "Bei Leuten, die einmal betrunken auf dem Rad erwischt wurden, empfinde ich die Strafen manchmal als hart. Wenn jemand mehr als 1,6 Promille hat, gilt er als absolut fahruntauglich und macht sich strafbar. Dem muss ich eine Geldstrafe aufbrummen, oft ein ganzes Monatsgehalt. Noch härter sind die Folgen: Der Verurteilte muss zum MPU-Test, sonst verliert er seinen Führerschein und darf theoretisch nicht einmal mehr Fahrrad fahren. Ich habe ständig mit solchen Fällen zu tun, aber noch nie hat ein betrunkener Radfahrer jemand anderen als sich selbst verletzt."

    Da fällt es schon schwer, den Satz 2 nicht auf den Radfahrer aus Satz 1 zu beziehen.

    Ich finde auch Ihre Kritik am "Ermessensspielraum" fehl am Platze, denn selbstverständlich gibt es so etwas wie richterliches Ermessen. Das beginnt bei der Beweiswürdigung und auch die Strafzumessung ist bekanntlich keine Sache, die sich mit einem Taschenrechner erledigen lässt.

    Ferner lässt der Artikel in meinen Augen an keiner Stelle erkennen, dass sich der Richter nicht der Sachverhaltsaufklärung und der Unschuldsvermutung verpflichtet fühlt. Diese Themen werden schlicht nicht angesprochen.

    Weiter reißen Sie in meinen Augen auch den Satz "Freisprechen kann ich so einen (Unfallfahrer) nicht, wenn der Staatsanwalt einen Strafbefehl beantragt hat." aus dem Zusammenhang. Unmittelbar im Absatz davor wird ja der Sachverhalt kurz dargestellt, über den der Richter dann schreibt und danach liegt eine fahrlässige Körperverletzung vor. Die Klammern um "Unfallfahrer" in ihrem (wörtlichen) Zitat sind nebenbei im Originaltext nicht da.

    Also für mich liest sich der Artikel keineswegs als Anfang vom Ende des Rechtsstreits.

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  8. Herr Kollege, wenn Sie jemals eine Presseerklärung abgegeben haben und dann hinterher lesen mussten, was der juristisch völlig unbeleckte Presseschreiberling (durchaus auch von einer seriösen Zeitung) dann daraus macht, wenn er es verkürzt in eigenen Worten "wiedergibt", sollte Ihnen klar sein, dass der Richter diesen Mist höchstwahrscheinlich nicht wörtlich so geäußert hat. Bei dem Zitat mit den 1,6 Promille wird wohl auf den Wert im Anhang der FEV angespielt, bei dem Führerscheinbehörden zwingend die Neuerteilung des Führerscheins von einer positiven MPU abhängig machen, wobei dann der Amateurjournalist Aussagen zu Strafbarkeit und zu führerscheinrechtlichen Folgen munter durcheinander wirft. Ich glaube kaum, dass ein Amtsrichter mit ein paar Jahren Praxis die Grenze der absoluten Fahruntüchtigkeit nicht kennt.

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  9. Ich würde z. B. das mit dem Ermessensspielraum nicht so eng und streng sehen. Ob jemand einer Tat »überführt« ist oder nicht, wird von den Beteilgten oft sehr unterschiedlich beurteilt. Und der Richter muss sich eine eigene Überzeugung bilden. Dazu muss er die einzelnen Beweisergebnisse bewerten und gewichten. Und das gibt es durchaus erhebliche Spielräume, innerhalb derer eine solche Entscheidung sich bewegen kann, ohne deshalb »falsch« zu sein. Und wenn man dem Laien das als Ermessen erklärt, liegt man doch gar nicht so völlig verkehrt ...

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  10. In der Serie "Wie ich euch sehe" in der SZ wird das, was der Befragte erklärt, von einem Redaktionsmitglied protokolliert (das stand bis vor kurzem auch so in der Autorenzeile). Die genaue Wortwahl ist die des Protokollanten, nicht die des Interviewten.

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  11. Kein Ermessungsspielraum? Bei den zivilen Pressekammern heißt das Abwägung. Bildet die Grundlage für die richterliche Willkür.

    Eremessungsspielraum = Abwägung = Willkür = Lebensrisiko = Freiheit.

    Über das Maß der Freiheit wird gestritten.

    Es geht immer wieder nur darum, wie gestritten wird, wie die eigene Freiheit erfolgreich verteidigt wird, werden kann.


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  12. Zumindest diesmal kann ich mich des Eindrucks nichr erwehren, dass Sie sehr voreingenommen an den Artikel herangegangen sind Herr Kollege. Frei nach dem Motto "Im Zweifel gegen den Richter". Viele der von Ihnen kritisierten Äußerungen stellen sich im Kontext und objektiver Auslegung (wenn man nur will) bei weitem nicht so rechtsfeindlich dar wie das Ihr Blogbeitrag suggeriert.

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  13. Habe den Artikel gelesen. Als Richter hätte ich den nicht freigegeben. Man erhält den Eindruck, der Richter macht was er will, erzieht ein wenig die Bevölkerung, am Ende interessiert ihn der Angeklagte vielleicht ein wenig, aber beim Urteil und der Strafzumessung ist ihm dann alles wieder egal. Kein Wort über Prozessordnung, Gesetze, Unschuldsvermutung. Der Artikel suggeriert, Vorurteile aus Fernsehgerichten klarzustellen, in Wirklichkeit zeigt er erschreckend auf, wie entrückt und selbstgefällig Richter sein können.
    Passt aber zu meiner bescheidenen Erfahrung (nur Zivilrecht bisher, zum Glück).

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