Donnerstag, 6. Oktober 2016
Rechtliches Gehör
Die Anklageschrift ist in sich widersprüchlich, konkreter und abstrakter Anklagesatz passen nicht zueinander und das vorgeworfene Verhalten ist meiner Ansicht nach nicht strafbar. Bei letzterer Rechtsansicht habe ich immerhin ein Urteil des BGH auf meiner Seite. Das alles schreibe ich im Zwischenverfahren auch dem Gericht.
Das Gericht eröffnet das Verfahren mit einem Einzeiler ohne jede Begründung.
Also weise ich eingangs der mündlichen Verhandlung nochmals auf meine diversen rechtlichen Bedenken hin. Jetzt holt die Vorsitzende mit leicht beleidigtem Unterton zum Lamento aus - das alles habe sie sehr wohl bedacht, ja sie habe es sogar von einem Referendar (sitzt daneben) überprüfen lassen, aber ach: Sie sei anderer Meinung.
Also frage ich sie, warum sie das nicht in ihren Eröffnungsbeschluss hineingeschrieben habe, dann hätte sich die Verteidigung darauf einstellen können. Daraufhin guckt Frau Vorsitzende pikiert und meint, Eröffnungsbeschlüsse begründe sie nie, dass sei nicht üblich.
Da weise ich sie darauf hin, dass es einen verfassungsmäßig gesicherten Anspruch auf rechtliches Gehör gebe und dass dieser Anspruch unter anderem umfasse, dass sich die angerufene Stelle mit den Argumenten des Petenten befasse und diesem dies auch nachvollziehbar zu erkennen gebe. Schließlich dient das rechtliche Gehör nicht dazu, dass ich mit meinen warmen Worten die Saaltemperatur erhöhe, sondern das rechtliche Gehör soll die Berücksichtigung meiner Argumente gewähren.
Ungläubiges Staunen bei Gericht und Staatsanwaltschaft.
Das Verfahren wird ausgesetzt, denn mittlerweile ist es 14:00 Uhr. Feierabend bei Gericht. Ich gehe dann mal ins Büro, arbeiten.
Also mich persönlich würde es auch eher befremden, in einem Eröffnungsbeschluss seitenlange Begründungen zu lesen, warum das Gericht den Argumenten der Verteidigung nicht folgt. Immerhin ist der Eröffnungsbeschluss nur eine vorbereitende Entscheidung, welche lediglich eine gewisse Verurteilungswahrscheinlichkeit bejaht, und die eigentliche rechtliche Auseinandersetzung - einschließlich ausgiebiger Gewährung rechtlichen Gehörs durchaus auch zu Rechtsfragen - findet in der Hauptverhandlung statt. Aus gutem Grund ist ein stattgebender Eröffnungsbeschluss auch nicht anfechtbar. Eine Begründung ist in § 207 StPO auch in der Tat nicht vorgesehen, wenn auch sicher nicht verboten. Und die Erteilung "rechtllicher Hinweise" jenseits der Thematik des § 265 StPO ist im Strafprozess nunmal auch nicht vorgeschrieben.
AntwortenLöschenDas alles wäre an sich auch überhaupt kein Problem, wenn wir als Verteidiger einem stattgebenden Eröffnungsbeschluss bereits konkludent entnehmen könnten, dass das Gericht der gegen die Eröffnung vorgetragenen Rechtsauffassung nicht zu folgen gedenkt. In der Praxis ist die gerichtliche "Prüfung" im Rahmen des Eröffnungsbeschlusses jedoch oftmals derart oberflächlich, dass man sich nicht darauf verlassen kann, dass ein Verteidigungsschriftsatz vorher überhaupt gelesen wurde.
Eine „... nur vorbereitende Entscheidung“, wie bitte? Sie wäre sinnlos, falls man dem Richter im Zwischenverfahren sogar ersparen wollte, wenigstens die Zulässigkeit zu prüfen (z.B. die, ob er der richtige Spruchkörper ist oder ob sich aus der Anklageschrift überhaupt eine verfolgbare Straftat erlesen lässt).
AntwortenLöschenDie Hinweispflicht des § 265 StPO hat - anders als das häufig missachtete 'so früh wie möglich' in § 139 ZPO - (noch) keine Zeitvorgabe, greift also natürlich schon im Zwischenverfahren. Kommt das Gericht ihr nicht nach, läuft der Verteidiger mit Mandant womöglich in eine Veranstaltung und erwartet zu Recht, dass wegen eines aufgehobenen Gesetzes (lt. Anklage) sicher nicht verurteilt werden wird - erst recht, wenn er im Zwischenverfahren bereits darauf hingewiesen hat. Das Gericht aber erteilt den Hinweis (z.B.: die außer Kraft gesetzte Strafnorm der Anklage sei aufgegangen in einer aktuellen Norm, welche das Gericht jetzt zugrunde legen wolle) erst nach Verlesung der Anklage. Verteidiger stellt nun Aussetzungsantrag nach § 265 Abs. 4 StPO, Richter lehnt mangels Änderung der Sachlage ab: Abhilfe gegen dieses unfaire Vorgehen wohl frühestens in der Revision, also nachdem der u.U. verurteilte Mandant die Verfahrenskosten vorfinanzieren musste, also womöglich in schlimmen Fällen nach mehreren Fehltagen wegen Hauptverhandlungsterminen seine private und berufliche Existenzgrundlage verloren hat. Falls er überhaupt zum Revisionsgericht gelangt, denn auch wenn es der Anklagebehörde nach RiStBV nicht ansteht, taktische Rechtsmittel zu führen, würde dies in einem solchen Fall wohl geschehen.
Daher: Nein! Auch im Zwischenverfahren hat der Richter bitte das Hirn einzuschalten, bevor er die Zulassung verfügt. Anderenfalls sollte der Gesetzgeber diese Aufgabe einem Rechtspfleger oder der Geschäftsstelle übertragen, denn Richterzeit ist teuer. Und dass unsere Justiz kaputt gespart wird, sehen wir tagtäglich. Hier wäre echtes Sparpotenzial, hätten Sie Recht.
@ Joachim Breu: Da haben wir uns missverstanden. Ich wollte keinesfalls zum Ausdruck bringen, dass ich die verbreitete Praxis, die Prüfungspflicht im Zwischenverfahren schleifen zu lassen, für gut befinde. Selbstverständlich sollte der Richter vor Eröffnung die Akte legen und gerade im Falle von Rechtsfehlern und/oder formalen Mängeln der Anklage die Eröffnung ablehnen bzw. modifiziert zulassen gemäß § 207 II Stopp, nicht erst in der Verhandlung mit rechtlichen Hinweisen auf Anwendung anderer Gesetze kommen. Dass diese Prüfung oft nicht ordentlich durchgeführt wird, ist ganz klar ein Missstand.
AntwortenLöschenÜber diesen Fall berichtet Kollege Nebgen hier aber nicht, wenn ihn das Gericht hier nicht glatt angelogen hat. Hier hat das Gericht angeblich das Verteidigungsvorbringen zur Kenntnis genommen und für nicht stichhaltig erachtet, daher unverändert und (wie allgemein üblich) ohne Begründung eröffnet. In diesem Fall liegt eben entweder Kollege Nebgen oder das Gericht mit seiner Rechtsansicht falsch, verfahrenstechnisch hat das Gericht aber auf Basis seiner Rechtsauffassung völlig korrekt gehandelt.